Zahlen zur Entwicklung der inklusiven Beschulung in Hessen
HLZ 10-11/2018: 28. Oktober: Wählen gehen!
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Im Jahr 2009 hat sich die Bundesrepublik mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)verpflichtet, „angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen“ zu treffen, so dass „Menschen mit Behinderung nicht aufgrund von Behinderungen vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden“ (Artikel 24). Vor diesem Hintergrund wurde mit der Novellierung des Hessischen Schulgesetzes 2011 die inklusive Beschulung schulrechtlich zum Regelfall erklärt, aber gleichzeitig unter Ressourcenvorbehalt gestellt. Darüber hinaus wurden die zuvor bestehenden hohen Standards für den Gemeinsamen Unterricht hinsichtlich Doppelbesetzung und Klassengröße abgeschafft.
Die Daten der offiziellen Schulstatistik machen es möglich, die Umsetzung der Inklusion an den hessischen Schulen zu überprüfen. Das Hessische Statistische Landesamt legt jedes Jahr ausführliche Daten zur sonderpädagogischen Förderung an allgemeinen Schulen und an den Förderschulen vor. Hier werden die jährlichen Publikationen ab dem Schuljahr 2009/10, somit seit dem Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention, analysiert. (1) Die letzten verfügbaren Daten beziehen sich auf das vergangene Schuljahr 2017/18. Bei der folgenden Auswertung handelt es sich um eine rein quantitative Betrachtung, die jedoch nichts über die Qualität der gelebten Inklusion – oder auch Exklusion – aussagt.
Im Schuljahr 2009/10 gab es in Hessen 689 allgemeine Schulen, an denen Kinder oder Jugendliche mit festgestelltem sonderpädagogischen Förderbedarf unterrichtet wurden. Verbundschulen, wie beispielsweise eine verbundene Haupt- und Realschule, werden von der Schulstatistik doppelt gezählt. Diese Zahl ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen und lag im Schuljahr 2017/18 bei 1.138. Damit findet inzwischen an deutlich mehr als der Hälfte der allgemeinen Schulen inklusiver Unterricht statt. Noch stärker ist die Zahl der inklusiv unterrichteten Schülerinnen und Schüler angewachsen. Ihre Zahl hat sich im gleichen Zeitraum von 3.637 auf 9.118 mehr als verdoppelt. Die Zahl der inklusiven Klassen hat sich von 2.073 auf 5.050 erhöht. Die durchschnittliche Zahl der Schülerinnen oder Schüler mit Förderbedarf pro Klasse mit inklusivem Unterricht ist mit 1,8 etwa konstant geblieben. Diese Befunde sind ein klarer Hinweis darauf, dass sich die Inklusion seit dem Inkrafttreten der UN-BRK quantitativ weiterentwickelt hat. Ein differenzierteres Bild ergibt sich, wenn man die verschiedenen Förderbedarfe betrachtet und den Bezug zur Entwicklung der Förderschulen herstellt.
Die Zunahme des inklusiven Unterrichts ist zum größten Teil auf einen Zuwachs beim Förderbedarf Lernen zurückzuführen, sowohl in der Grundschule wie auch in der Sekundarstufe I (Tabelle 1). Noch stärker ist das relative Wachstum beim Förderbedarf Geistige Entwicklung (GE), allerdings von einem sehr niedrigen Ausgangsniveau aus: Im Schuljahr 2009/10 wurden an den Grundschulen 82 Kinder mit dem Förderbedarf GE unterrichtet, im Schuljahr 2017/18 waren es 680. Stagnation oder sogar rückläufige Zahlen gibt es etwa bei Kindern mit dem Förderbedarf Hören in der Sekundarstufe I; ihre Zahl ist von 89 auf 69 zurückgegangen. Bei der Analyse ist allerdings auch zu bedenken, dass in den ersten beiden Klassen die Förderbedarfe Lernen, Emotionale und soziale Entwicklung (ESE) sowie Sprachheilförderung (SH) in der Regel nicht mehr festgestellt werden.
Die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit dem Förderbedarf Lernen ist an den Förderschulen spiegelbildlich zu den steigenden Zahlen bei der Inklusion zurückgegangen (vgl. Tabelle 2). Wurde im Schuljahr 2009/10 nur ein Zehntel aller Kinder und Jugendlichen mit dem Förderbedarf Lernen an einer allgemeinen Schule unterrichtet, so waren es im Schuljahr 2017/18 bereits 41,8 Prozent. Der Inklusionsanteil hat sich beim Förderbedarf GE von nur 2,3 auf immerhin 15,2 Prozent erhöht. Gleichwohl ist der Besuch einer Förderschule hier nach wie vor die Regel.
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass trotz steigender Inklusionszahlen und in diesem Zeitraum insgesamt rückläufiger Schülerzahlen die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit dem Förderbedarf GE an den Förderschulen um gut 200 auf 5.210 angewachsen ist. Das ist ein Hinweis darauf, dass inzwischen in Grenzfällen häufiger der Förderbedarf GE anstelle von beispielsweise Lernen festgestellt wird. Auch beim Förderbedarf ESE ist trotz steigender Inklusionsquote ein Anstieg der Schülerzahl an den Förderschulen zu beobachten.
Beim Förderbedarf Körperliche und Motorische Entwicklung (KM) gibt es sowohl einen - langsam - steigenden Inklusionsanteil als auch weniger Schülerinnen und Schüler an den entsprechenden Förderschulen.
Seit dem Schuljahr 2017/18 werden vom Statistischen Landesamt umfassendere Daten zur sonderpädagogischen Förderung bereitgestellt. Daher liegen ab diesem Schuljahr auch Angaben zur Verteilung der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf die verschiedenen Schulformen vor. Diese zeigen auf, dass die Inklusion in erster Linie von Grundschulen und Gesamtschulen getragen wird. Unter den weiterführenden Schulen besuchen 4 von 10 inklusiv unterrichteten Schülerinnen und Schülern eine Integrierte Gesamtschule (vgl. Tabelle 3). 3 von 10 besuchen eine Hauptschule, wobei hiervon ein größerer Anteil auf die Hauptschulzweige der Kooperativen Gesamtschulen entfallen dürfte. Da auch deren Realschul- und Gymnasialzweige den jeweiligen Schulformen zugeschlagen werden, ist auch für diese keine exakte Aussage möglich. Gleichwohl ist der Anteil des Gymnasiums offensichtlich gering, da insgesamt lediglich 223 Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf ein Gymnasium oder den Gymnasialzweig einer Kooperativen Gesamtschule besuchen.
Der Bildungsforscher Klaus Klemm hat jüngst dafür plädiert, den Fortschritt bei der Inklusion nicht länger an der Entwicklung des Inklusionsanteils festzumachen, sondern an der Exklusionsquote, also dem Anteil der Schülerinnen und Schüler an Förderschulen an der gesamten Schülerzahl (2). Dabei verwendet er Daten der Kultusministerkonferenz, die nicht exakt mit den hier verwendeten vergleichbar sind. Gleichwohl bestätigen seine Befunde die hier entwickelten Trendaussagen: Der Exklusionsanteil habe sich in Hessen vom Schuljahr 2008/09 bis zum Schuljahr 2016/17 nur geringfügig von 4,3 auf 4,1 Prozent reduziert. Im Anhang der Studie sind steigende Exklusionsquoten für Hessen u.a. für die Förderbedarfe GE und ESE ausgewiesen. Hessen liegt aus dieser Perspektive im Vergleich der Bundesländer im Mittelfeld. In Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz habe sich die Exklusionsquote sogar erhöht. Das ist insofern bemerkenswert, als Mathias Wagner als bildungspolitischer Sprecher der GRÜNEN immer wieder darauf verweist, dass mit den inklusiven Schulbündnissen in Hessen Schwerpunktschulen nach dem Vorbild von Rheinland-Pfalz etabliert werden sollen.
Roman George
(1) Hessisches Statistisches Landesamt: Die allgemeinbildenden Schulen in Hessen. Teil 1: Grundschulen, Hauptschulen, Mittelstufenschulen, Förderstufen, Förderschulen, Sonderpädagogische Förderung an allgemeinen Schulen, Wiesbaden, 2010, 2011, 2012, 2013, 2014, 2015, 2016, 2017, 2018.
(2) Klaus Klemm: Unterwegs zur inklusiven Schule. Lagebericht 2018 aus bildungsstatistischer Perspektive, Gütersloh, 2018.