Vision Inklusion? Perspektiven der schulischen Inklusion

Bericht von der Podiumsdiskussion mit den Faktionen im September

Die Umsetzung des in der UN-Behindertenrechtskonvention verankerten Rechts auf inklusive Bildung ist nach wie vor eine der wichtigsten bildungspolitischen Baustellen. Zum Schuljahresbeginn stellte der Kultusminister in einer Pressemitteilung fest, dass nun mit der hessenweiten Einführung der inklusiven Schulbündnisse eine „flächendeckende inklusive Bildungslandschaft“ bestehe. Aber ist dem wirklich so? Allein die Tatsache, dass in Hessen nach wie vor drei von vier Schülerinnen oder Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine Förderschule besuchen, widerspricht dieser Behauptung. 

Auch weitere Fragen sind nach wie vor offen: 

  • Wie werden Lehrkräfte optimal für eine inklusive Schule ausgebildet? 
  • Wird der bauliche Zustand der Schulgebäude beispielsweise den Anforderungen von körperlich eingeschränkten Schülerinnen und Schülern gerecht? 
  • Was bringt Eltern und Kindern die proklamierte „Wahlfreiheit“ zwischen schlecht ausgestatteter Inklusion und dem Besuch von nach wie vor separierenden Förderschulen?

Wir haben im Vorfeld der Landtagswahl 2018 mit den bildungspolitischen Sprecherinnen und Sprechern der im Hessischen Landtag vertretenen Fraktionen diskutiert:

  • Christoph Degen (SPD)
  • Gabriele Faulhaber (DIE LINKE)
  • Wolfgang Greilich (FDP)
  • Bodo Pfaff-Greiffenhagen (CDU)
  • Mathias Wagner (Bündnis 90/Die Grünen)

Begrüßung: Birgit Koch (GEW Hessen) | Moderation: Katja Irle (Journalistin und Autorin)

Inklusion in der Diskussion

Herrscht in Hessen ein „Inklusions-Chaos“, wie es Christoph Degen als bildungspolitischer Sprecher der SPD konstatierte, oder ist der zurückgehende Anteil der Kinder auf einer Förderschule ein Beleg dafür, dass sich das Bundesland in Sachen Inklusion auf dem richtigen Weg befindet? Auf die auf vier Prozent gefallene Förderschulbesuchsquote verwies Mathias Wagner als Fraktionsvorsitzender und bildungspolitischer Sprecher der Regierungspartei DIE GRÜNEN. Diese und weitere Fragen diskutierten am 25. September die bildungspolitischen Sprecherinnen und Sprecher der im Hessischen Landtag vertretenen Parteien auf Einladung der Gruppe InklusionsBeobachtung. Unter dem Titel „Vision Inklusion?“ stellte sie mit dieser Veranstaltung die Perspektiven der schulischen Inklusion in Hessen im Vorfeld der Landtagswahlen zur Debatte.

Neben Mathias Wagner und Christoph Degen nahmen auch Gabriele Faulhaber, bildungspolitische Sprecherin von DIE LINKE, sowie Wolfgang Greilich, bildungspolitischer Sprecher der FDP, an der Podiumsdiskussion teil. Armin Schwarz, der bildungspolitische Sprecher der CDU, war leider verhindert. Stattdessen stellte sich Bodo Pfaff-Greifenhagen, nachgerückter Landtagsabgeordneter der CDU aus Frankfurt, der Debatte. Nach einer Begrüßung durch die Vorsitzende der GEW Hessen, Birgit Koch, führte die Journalistin und Autorin Katja Irle als Moderatorin durch die Veranstaltung. Wenngleich nicht alle Plätze im Wilhelm Leuschner Saal des Frankfurter Gewerkschaftshauses besetzt waren, nutze das interessierte Publikum die Gelegenheit, um sich mit Erfahrungsberichten, Fragen und Anregungen engagiert einzubringen.

Die Bestandsaufnahme fiel, wie nicht anders zu erwarten, sehr gegensätzlich aus. Mathias Wagner wie auch Bodo Pfaff-Greifenhagen werteten als Vertreter der schwarz-grünen Koalition die schulpolitischen Entwicklungen der auslaufenden Legislaturperiode als Erfolg, insbesondere die Einführung der so genannten inklusiven Schulbündnisse. In diesem Rahmen könnten sich nun Schwerpunktschulen entwickeln, so Mathias Wagner. Denn da wo Inklusion stattfinde, wolle man es nun „richtig“ machen, anstatt die Inklusion flächendeckend unter mäßigen Bedingungen zu etablieren. Gleichwohl zeigten sich aber auch zwischen den beiden Regierungsparteien deutliche Unterschiede hinsichtlich der Zielvorstellung: Bodo Pfaff-Greifenhagen forderte für die CDU die dauerhafte Aufrechterhaltung des Doppelsystems aus Inklusion und Förderschulen – und zwar bei allen Förderschwerpunkten. Mathias Wagner hingegen machte sich durchaus für die perspektivische Überwindung des Doppelsystems stark. Es sei aber falsch, dabei wie in anderen Bundesländern mit festen Stichtagsregelungen zu arbeiten.

Die Kritik an der Umsetzung der schulischen Inklusion in Hessen setzte an sehr unterschiedlichen Stellen an. So unterstellte Wolfgang Greilich, dass in Hessen die Inklusion in den vergangenen Jahren „mit der Brechstange“ umgesetzt worden sei. Im Gegensatz dazu forderten Gabriele Faulhaber und Christoph Degen eine raschere und weitergehende Entwicklung hin zu einem inklusiven Schulsystem. So müsse, Gabriele Faulhaber zufolge, jede Schule eine Förderschule sein, das Doppelsystem so überwunden werden. Ähnlich äußerte sich Christoph Degen: Es ginge weniger um die Auflösung von Förderschulen, sondern um das Zusammenwachsen mit den allgemeinen Schulen. Beide erkannten allerdings an, dass diese Entwicklung einige Zeit in Anspruch nehmen wird: „Nach zehn Jahren Kuddelmuddel muss erstmal aufgeräumt werden“, so Gabriele Faulhaber. Christoph Degen wies auch auf die Versäumnisse bei der Ausbildung der Lehrkräfte hin, die zusätzlich benötigten Lehrerinnen und Lehrer müssten nun erstmal Studium und Vorbereitungsdienst durchlaufen.

Dorothea Terpitz von der Elterninitiative Gemeinsam leben Hessen machte deutlich, dass neun Jahre nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention von einer Einlösung des darin verankerten Rechtsanspruchs auf inklusive Bildung keine Rede sein kann. Die proklamierte Wahlfreiheit zwischen den separierenden Förderschulen einerseits und der schlecht ausgestatteten Inklusion andererseits werde den Anforderungen der Behindertenrechtskonvention nicht gerecht. Dass die inklusiv arbeitenden Schulen eine verlässliche Personalausstattung benötigen, betonten sowohl Mathias Wagner als auch Christoph Degen. Während Mathias Wagner von einem „festen Personalschlüssel“ für inklusiv arbeitende Schulen sprach, stellte Christoph Degen die weitergehende Forderung nach einer „Grundversorgung“ mit Förderpädagoginnen und -pädagogen für die allgemeinen Schulen auf.

Weitgehende Einigkeit bestand dahingehend, dass die Ausbildung von Lehrkräften auf die Anforderungen der inklusiven Bildung hin angepasst werden muss. So müsse die Auseinandersetzung mit sonderpädagogischen Grundlagen sowie die Vorbereitung auf das Arbeiten in multiprofessionellen Teams sowohl im Studium wie auch im Vorbereitungsdienst aller Lehrämter fest verankert werden. Mathias Wagner wendete ein, dass es aus seiner Sicht wichtiger ist, über Multiplikatorinnen und Multiplikatoren für die Verbreitung von gelingenden Umsetzungsbeispielen zu sorgen. Die Wortmeldung einer Lehramtsstudentin machte allerdings deutlich, dass auch die aktuellen Studienbedingungen an den lehrerbildenden Universitäten alles andere als zufriedenstellen sind. 

Anschließend wurden auch die baulichen Anforderungen an die inklusive Schule thematisiert. Bodo Pfaff-Greifenhagen betonte, dass das Land den Kommunen mit den Kommunalen Investitionsprogrammen KIP 1 und KIP 2 dazu ausreichend Mittel zur Verfügung gestellt habe. Die Kommunen als Schulträger müssten nun den Gesichtspunkt der Barrierefreiheit immer mitdenken. Naxina Wienstroer wies als Vorsitzende des Landesbehindertenrats auf die nach wie vor oft unzureichende Barrierefreiheit des öffentlichen Raums hin. Die Beispiele vieler europäischer Nachbarländer zeigten auf, dass in dieser Hinsicht im reichen Deutschland offensichtlich noch Nachholbedarf besteht. Mathias Wagner verdeutlichte, dass im Zuge der Einführung der inklusiven Schulbündnisse nur die Schulen baulich angepasst werden müssten, die auch die entsprechenden Förderschwerpunkte abdecken. Das Kultusministerium wolle in Sachen Schulbau und Inklusion gar nicht wirklich wissen, ob und wie die Kommunen sich dieser Herausforderung stellten, monierte Christoph Degen. Gabriele Faulhaber erinnerte abschließend daran, dass für eine inklusive Pädagogik der Raum als „dritter Pädagoge“ noch viel mehr als Barrierefreiheit leisten müsse.