Weniger Förderschülerinnen und -schüler = mehr Inklusion?

mit Berechnungen

Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung hat sich im April 2014 nach seiner Überprüfung der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland besorgt gezeigt, da ein Großteil der Schülerinnen und Schüler mit Behinderung eine Förderschule besucht.

Allerdings zeigt der Blick auf die Zahlen für die hessischen Förderschulen, dass die Schülerzahl an diesen zurückgeht. Besuchten im Schuljahr 2003/2004 noch 26.326 Schülerinnen und Schüler eine der damals noch „Sonderschulen“ genannten exkludierenden Einrichtungen, so fiel die Zahl zehn Jahre später mit 24.419 erkennbar geringer aus. Im gleichen Zeitraum hat sich die Zahl der inklusiv beschulten Schülerinnen und Schüler von 3.022 auf 6.671 mehr als verdoppelt. Ungeachtet aller Schwierigkeiten hinsichtlich der konkreten Umsetzung, scheinen diese Zahlen auf den ersten Blick doch zumindest aufzuzeigen, dass die Förderschulen als Sondersystem langsam zugunsten einer inklusiven Beschulung an den Regelschulen an Bedeutung verlieren.

Aber hält diese Interpretation, die etwa das Kultusministerium vorbringt, einer näheren Überprüfung wirklich stand? Und gilt das gegebenenfalls für das gesamte Bundesland oder gibt es regionale Unterschiede? Welches Gewicht kommt den verschiedenen Förderschwerpunkten zu? Antworten auf diese Fragen lassen sich umfangreichen Daten entnehmen, die das Kultusministerium auf eine kleine Anfrage des Landtagsabgeordneten Christoph Degen (SPD) hin zur Verfügung gestellt hat.[1] Auf 86 Seiten finden sich dort detaillierte statistische Angaben zur Entwicklung der Schülerzahlen an Förderschulen vom Schuljahr 2002/2003 bis zum Schuljahr 2013/2014.

Um den Rückgang der Schülerzahlen an Förderschulen richtig interpretieren zu können, reicht der Blick auf die absoluten Zahlen jedoch nicht aus. Diese müssen vielmehr in Relation zur gesamten Schülerzahl bewertet werden. Was die Entwicklung der Schülerzahlen an den allgemeinbildenden Schulen in diesem Zeitraum anbelangt, gibt es erhebliche regionale Disparitäten: Einzig im Schulamtsbezirk Frankfurt hat sich die Schülerzahl deutlich erhöht, für das Schulamt Groß-Gerau ist ein geringfügiger Anstieg zu festzustellen. In allen anderen Schulamtsbezirken hat sich die Schülerzahl hingegen reduziert. Insbesondere in Nord- und Mittelhessen, aber auch in der Bergstraße und im Odenwaldkreis, sind deutliche Rückgänge zu verzeichnen.

Insgesamt ist die Schülerzahl von 696.377 im Schuljahr 2002/2003 auf 626.722 im Schuljahr 2013/2014 gefallen. Der genannte Rückgang der Schülerzahlen an den Förderschulen ist demnach Teil des Verlusts von einem Zehntel der Schülerschaft der allgemeinbildenden Schulen. Die Schülerzahlen an den allgemeinbildenden Schulen insgesamt sind sogar etwas stärker zurückgegangen als an den Förderschulen. Daher ist der Anteil der Förderschülerinnen und -schüler sogar von 3,7 auf 3,9 Prozent leicht angestiegen!

Im gleichen Zeitraum hat die inklusive Beschulung, die zunächst noch in Form des „Gemeinsamen Unterrichts“ realisiert wurde, tatsächlich erkennbar zugenommen – doch auch im Schuljahr 2013/2014 besuchten noch immer etwa viermal mehr Schülerinnen und Schüler eine Förderschule. Der Anteil der inklusiv unterrichteten Schülerinnen und Schüler hat im Verhältnis zur Gesamtzahl in diesem Schuljahr immerhin einen Anteil von 1,1 Prozent erreicht, während er zehn Jahre zuvor noch bei 0,4 Prozent lag. Vergleicht man die Zahlen zur Inklusion lediglich mit denen zu den Förderschulen, so entsteht tatsächlich der Eindruck, dass die exklusive Beschulung an Förderschulen durch die Inklusion zurückgedrängt wird. Wird hingegen die gesamte Schülerschaft als Maßstab gewählt, so zeigt sich ein anderes Bild: Die Bedeutung der Förderschulen hat sich in der Gesamtschau – zumindest bis zum Schuljahr 2013/2014 – wie bereits aufgezeigt nicht verringert. Der gleichzeitig zu beobachtende Ausbau der Inklusion beruht vielmehr darauf, dass bei einem wachsenden Anteil der Schülerschaft ein Förderbedarf diagnostiziert wird. Diese Entwicklung ist aber nicht auf veränderte Voraussetzungen seitens der Schülerinnen und Schüler zurückzuführen. Vielmehr liegt die Ursache in dem Dilemma begründet, dass unter den bestehenden Rahmenbedingungen angesichts ungenügend ausgestatteter Regelschulen benötigte zusätzliche Ressourcen zur individuellen Förderung nur durch die formale Feststellung von Förderbedarfen bei einer möglichst großen Zahl von Schülerinnen und Schülern zu mobilisieren sind. Damit geht allerdings eine problematische und fragwürdige Etikettierung von einzelnen Schülerinnen und Schülern einher. Darüber hinaus entsteht so ein nicht unerheblicher diagnostischer und bürokratischer Aufwand.

Auch der Anteil der Förderschwerpunkte hat sich in diesem Zeitraum deutlich verschoben. Beim Vergleich muss berücksichtigt werden, dass 2002/2003 die Sonderschulen noch nach Schulformen differenziert waren, während inzwischen von unterschiedlichen Förderschulen und -schwerpunkten die Rede ist. Auch andere problematische Begrifflichkeiten wurden modernisiert, so dass beispielsweise „Sonderschule für Körperbehinderte“ durch „Förderschule mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung“ ersetzt wurde. Deutlich rückläufige Schülerzahlen gibt es bei den ehemaligen Sonderschulen für Lernhilfe und für Körperbehinderte. Dennoch entfällt auch im Schuljahr 2013/2014 mit 42,7 Prozent noch immer ein Großteil der Förderschulkinder auf den Förderschwerpunkt Lernen. Bei allen anderen Förderschwerpunkten ist die Schülerzahl hingegen sogar angestiegen. Angesichts einer rückläufigen Gesamtzahl hat sich das relative Gewicht der Förderschwerpunkte Sprachheilförderung, Kranke Schülerinnen und Schüler, Emotionale und soziale Entwicklung, Hören sowie Sehen erkennbar erhöht. Besonders ausgeprägt fällt die Zunahme beim Förderschwerpunkt geistige Entwicklung aus, bei dem sich der Schüleranteil auf 20,7 Prozent annähernd verdoppelt hat. Ursache hierfür könnte sein, dass die Infragestellung der exkludierenden Beschulung, insbesondere bei den Förderschwerpunkten Lernen und körperliche und motorische Entwicklung, nur teilweise zu einer inklusiven Beschulung führt. Da Förderschwerpunkte oft diagnostisch nicht eindeutig voneinander abzugrenzen sind, findet möglicherweise oft nur eine andere Definition des Förderschwerpunktes statt. Wenn nun beispielsweise anstelle eines Förderbedarfs Lernen ein Förderbedarf im Bereich geistige Entwicklung festgestellt wird und daraus eine exkludierende Beschulung resultiert, so läuft das den Zielsetzungen der UN-Behindertenrechtskonvention diametral entgegen.

Hinsichtlich der Förderschulen liegen Daten für jedes einzelne Jahr gegliedert nach Schulamtsbezirken vor. Auf der Schulamtsebene bestehen, was den Anteil der Förderschülerinnen und -schüler betrifft, erhebliche Unterschiede. Besuchten im Bezirk Groß-Gerau und Main-Taunus-Kreis im Schuljahr 2013/2014 lediglich 3,0 Prozent der Schülerinnen und Schüler eine Förderschule, so erreichte der Anteil im Bezirk Schwalm-Eder-Kreis und Waldeck-Frankenberg mit 5,8 Prozent annähernd das Doppelte. Auch hinsichtlich der Entwicklungstrends gibt es erkennbare regionale Unterschiede: Während die relative Bedeutung der Förderschulen im Schulamtsbezirk Marburg-Biedenkopf deutlich zurückgegangen ist, hat sich diese in den Bezirken Gießen und Vogelsbergkreis,  Fulda sowie Darmstadt und Landkreis Darmstadt-Dieburg sogar erhöht. Es ist kein systematischer Zusammenhang zwischen diesen Entwicklungen einerseits und den regionalen sozialstrukturellen und demographischen Voraussetzungen andererseits zu erkennen. Dies legt die Vermutung nahe, dass das Vorankommen der Inklusion auch von lokalen Akteuren – insbesondere Schulträger, Schulverwaltung, Eltern- und Personalvertretung – abhängig ist.

Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen in Hessen, davon an Förderschulen
Schülerinnen und Schüler an Förderschulen nach Förderschwerpunkten

Berechnungen zur Anfrage

[1] Kleine Anfrage des Abg. Degen (SPD) vom 9.2.2015 betreffend Entwicklung der Schülerzahlen an Förderschulen und Antwort des Kultusministers, Drucksache 19/1576.