Zehn Jahre Behinderten-Rechtskonvention

Gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe für Menschen mit Beeinträchtigungen endlich umsetzen!

Pressemitteilung 22. März 2019

Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) ist am 26. März 2009, also vor zehn Jahren, in Deutschland zu geltendem Recht geworden. Anlässlich dieses Jubiläums fordert die Gruppe InklusionsBeobachtung ein ernsthaftes Engagement zu deren Umsetzung. Nicht zuletzt hinsichtlich der Einlösung des von der Behindertenrechtskonvention verbrieften Menschenrechts auf inklusive Bildung halten die in der Gruppe InklusionsBeobachtung zusammengeschlossenen Verbände deutlich mehr gesellschaftspolitische Anstrengungen für erforderlich.

Dr. Dorothea Terpitz, Vorsitzende der Elterninitiative Gemeinsam leben Hessen e.V., äußerte sich zu diesem Jahrestag wie folgt: „Zehn Jahre nach In-Kraft-Treten der Behindertenrechtskonvention erleben wir tagtäglich eine exklusive und ausgrenzende Haltung, wenn wir für unsere Kinder mit Behinderung die gemeinsame Beschulung an der allgemeinen Schule wünschen. Das muss sich ändern. Schon 2015 hat der UN-Fachausschuss Deutschland klar und deutlich darauf hingewiesen, dass das segregierende System in ein inklusives Schulsystem umzubauen ist. Wir brauchen endlich ein klares Bekenntnis unserer politisch Verantwortlichen und keine Bestandswahrung für Förderschulen.“ Der Verein Gemeinsam leben Hessen setzt sich für ein gemeinsames Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung ein.

Auch Naxina Wienstroer forderte mehr Anstrengungen aller Verantwortlichen, etwa für die Herstellung von Barrierefreiheit im öffentlichen Raum: „Die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention darf auf keinen Fall am Geld scheitern, denn Inklusion ist kein Luxus. Wir Menschen mit Behinderung wollen unseren Alltag nur so leben, wie alle anderen nicht-behinderten Menschen auch. Für nicht-behinderte Menschen sind Dinge selbstverständlich, für die wir immer noch streiten müssen. Vieles ist nicht selbstverständlich, zum Beispiel die volle Teilhabe an Bildung und Mobilität. Wir wollen an der Gesellschaft teilhaben, ohne Wenn und Aber, denn wir gehören dazu!“ Naxina Wienstroer ist Vorsitzende des Landesbehindertenrats, der die Interessen von Menschen mit Behinderungen im Sinne einer stärkeren Selbstbestimmung und Eigenständigkeit bei der Teilnahme am Leben unserer Gesellschaft vertritt.

Aus Sicht der Bildungsgewerkschaft GEW hat sich an den Schulen zwar vieles bewegt, es mangelt aber nach wie vor an einer angemessenen Ressourcenausstattung wie auch an einem konkreten Stufenplan zur Verwirklichung der Inklusion. Birgit Koch, Vorsitzende der GEW Hessen, zog das folgende Resümee: „Die Schulen nehmen den Auftrag der Behindertenrechtskonvention an. Sie werden mit der Umsetzung der Inklusion aber nach wie vor weitgehend alleine gelassen. Wir benötigen einen klaren und verbindlichen Zeit- und Ressourcenplan zur Entwicklung eines durchgängig inklusiven Bildungssystems. Die GEW Hessen fordert für alle inklusiv arbeitenden Schulen eine Grundausstattung von jeweils einer sozialpädagogischen Fachkraft und einer Förderschullehrkraft pro drei Klassen. Von einer solchen Ressourcenausstattung sind wir leider noch sehr weit entfernt. Wir nehmen bestehende Schwierigkeiten aber nicht zum Anlass, die Inklusion in Frage zu stellen. Vielmehr fordern wir beherzte bildungspolitische Maßnahmen für die Durchsetzung des Menschenrechts auf inklusive Bildung.“

Zum Hintergrund

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat die Behindertenrechtskonvention im Dezember 2006 verabschiedet. Die Bundesrepublik ratifizierte die Behindertenrechtskonvention am 24. Februar 2009, so dass sie am 26. März 2009 mit dem Rang eines Bundesgesetzes in Kraft trat. Obwohl die Behindertenrechtskonvention sich umfassend auf viele Lebensbereiche bezieht, beispielsweise Arbeit und Gesundheit, steht in Deutschland insbesondere der Abschnitt zur Bildung im Fokus öffentlicher Debatten. Artikel 24 fordert, dass die Vertragsstaaten ein „integratives Bildungssystem auf allen Ebenen“ gewährleisten. In diesem Sinne müssen die Vertragsstaaten unter anderem sicherstellen, dass „Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben“.

Anlässlich der Verankerung der Inklusion im Hessischen Schulgesetz haben sich 2012 mehrere Verbände zur Gruppe InklusionsBeobachtung zusammengeschlossen: Landesbehindertenrat Hessen, Gemeinsam leben Hessen e.V., elternbund hessen e.V., Landesschülervertretung Hessen, Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Hessen sowie der Landesausländerbeirat. Die Gruppe InklusionsBeobachtung hat mit mehreren Publikationen und mit der Durchführung von unterschiedlichen Veranstaltungen bestehende Umsetzungsschwierigkeiten der schulischen Inklusion aufgezeigt und entschiedene Gegenmaßnahmen eingefordert.

Die Mitgliedsverbände der Gruppe InklusionsBeobachtung erhalten nach wie vor zahlreiche Anfragen und Rückmeldungen, die von bestehenden qualitativen Umsetzungsproblemen im hessischen Schulsystem zeugen. Auch aus quantitativer Perspektive ist eine ernüchternde Bilanz zu ziehen. So wies etwa zuletzt der Bildungsforscher Klaus Klemm in einem „Lagebericht“ darauf hin, dass sich die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit einem festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf an den allgemeinen Schulen im Zusammenhang mit der Behindertenrechtskonvention erhöht hat. Gleichzeitig sind aber die Schülerzahlen an den Förderschulen nicht in gleichen Ausmaßen gesunken. Er bewertet dieses Ergebnis als „mager“, da sich beachtliche Fortschritte nur in einzelnen Bundesländern feststellen lassen. Die so genannte Exklusionsquote, die den Anteil der Schülerinnen und Schüler an Förderschulen ausweist, ist Klaus Klemm zufolge in Hessen von 4,3 Prozent im Schuljahr 2008/2009 nur geringfügig auf 4,1 Prozent im Schuljahr 2016/2017 abgesunken.