Ausgeschult

Ein neuer Trend geht durchs Land: Schüler , die besondere Verhaltensauffälligkeiten zeigen, werden in der Schule „aussortiert“.

Das Ganze ist zudem gesellschaftlich anerkannt. Jemand, der sich nicht an die Regeln hält, stört die anderen, muss gehen. So wollen es auch die Eltern der Mitschüler. Lehrer berichten zudem, dass schon ein Schüler, der sich nicht an die Regeln hält, den Unterricht so massiv stören kann, dass eine Fortsetzung nicht mehr möglich ist. Doch wie lässt sich diese Vorgehensweise mit den Anforderungen der UN-BRK vereinbaren, nach der niemand ausgegrenzt werden darf (schon gar nicht ein Mensch mit Behinderung!) und Teilhabe selbstverständlich sein soll?

Man schaut hilflos zu, fühlt sich überfordert und setzt letztendlich am Ende alle Energie nur noch darein, einen solchen Schüler loszuwerden.  Dann wird ausgeschult, von der Schulbehörde oft als „vorläufiges Ruhen der Schulpflicht“ bezeichnet. Doch die Ausschulung ist das krasse Gegenteil von Inklusion und für die betroffenen Familien beginnt damit ein langer Leidensweg, bei dem das eigentlich Problem, seine Ursachen und deren Beseitigung in den Hintergrund geraten und durch den fast aussichtslosen Kampf gegen die Schulbehörde um die Rechte des Kindes abgelöst werden.

Beispiele haben wir viele. Ein Fall in Kassel z.B.: Ein Junge mit ADHS, dessen Problem schon im Kindergarten bekannt war, der dort einen Integrationsplatz hatte. ADHS führt bekanntermaßen zu einer geringen Aufmerksamkeitsspanne, zu unstrukturiertem Verhalten mit fehlender Impulskontrolle. Störungen und Konflikte mit der Lehrerin und den Mitschülern sind also vorprogrammiert. Bei Einschulung wird die Unterstützung durch eine Assistenzkraft vom Jugendamt, die zwischen ihm und den neuen Klassenkameraden vermitteln könnte, die zuverlässig an seiner Seite einen guten Übergang gestalten und ihm das nötige Vertrauen für eine positive Entwicklung geben könnte, durch die Jugendbehörde der Stadt verweigert. Sie sieht sich nicht in der Pflicht, die Schule soll zunächst selbst sehen, ob sie allein klarkommt. Aus Sicht von Eltern und betroffener Lehrerin war schon im Vorhinein klar, dass die Situation im Unterricht eskalieren wird. Der Vater stellt erneut einen Antrag auf Eingliederungshilfe beim Jugendamt. Dieses wartet jedoch monatelang die Einberufung des sogenannten Kooperationskreises ab (eine typisch Kasseler Einrichtung: der „runde Tisch“ mit Pädagogen von Schule und BFZ, mit den Mitarbeitern des Jugendamtes). Dieses Gremium findet sehr zügig eine Entscheidung, man teilt den Eltern mit: Der Junge soll in die Psychiatrie, andere schulische Möglichkeiten (Auszeitklasse, ETEP-Klasse, Förderschule) kommen angeblich nicht mehr infrage. Kaum einer der Teilnehmer des Kooperationskreises kennt das Kind persönlich oder hat sich intensiver mit ihm befasst. Hauptsache das Problem ist vom Tisch.

Ebenfalls aus Kassel wandte sich eine Familie an uns, weil ihr Sohn, hochbegabt mit Autismus-Spektrums-Störung, starke Verweigerungstendenzen zeigt und im Rahmen des Schulbetriebs besondere Ängste entwickelte. Der Junge ging zwei Jahre lang nicht zur Schule, die Familie hat in der Zeit eine Odyssee auf der Suche nach ausführlicher diagnostischer Abklärung und Unterstützungsmaßnahmen hinter sich gebracht. Nun haben die Eltern eine Schule gefunden, die bereit war, ihn aufzunehmen, die notwendige Schulbegleitung wurde vom Jugendamt aber nur für ein Halbjahr bewilligt. Die Eltern haben nun die Aufstockung und Verlängerung dieser Maßnahme beantragt, weil diese Person ihrem Sohn das nötige Vertrauen gibt, seine Ängste abbaut und es so aktuell sehr gut läuft. Nun verweigert das Jugendamt aber die weitere Unterstützung, verlangt erneut ein fachärztliches Gutachten (stellt also die Diagnose in Frage) und rät den Eltern stattdessen zur Psychiatrie oder doch wenigstens nach einem speziellen Internat zu suchen. Hintergrund ist dabei offensichtlich weniger das Wohlergehen des Schülers, als vielmehr die Verschiebung der Kostenträgerschaft von der eigenen Behörde auf den überörtlichen Sozialhilfeträger (LWV), der bei solchen Maßnahmen einspringen muss (die übrigens viel kostenintensiver sind als eine reguläre Schulbegleitung!).

In Frankfurt betreuen wir eine Familie, deren Sohn aufgrund seines frühkindlichen Autismus die Schule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung besucht. Die Behinderung ist sehr ausgeprägt, der Junge spricht nicht, es kommt immer wieder zu Schwierigkeiten.  Am Ende nahm der Schulleiter einen Monat vor den Sommerferien einen Vorfall zum Anlass, (telefonisch!) den Eltern gegenüber die Ausschulung des Jungen anzuordnen. Die Mutter musste den Sohn sofort abholen, weiter passiert nichts. Nach den Sommerferien ruft die Mutter den Schulleiter an, will wissen wie es weitergeht. Dieser verweist auf das Staatliche Schulamt, der verantwortliche Dezernent verweist wiederum auf den Schulleiter. So geht es ein paar Wochen, erst nachdem unser Verein im Staatlichen Schulamt nach dem rechtsgültigen Bescheid fragt (fast zwei Monate, nachdem der Junge die Schule nicht mehr besuchen darf), wird der Mutter ein neun Seiten füllendes Dokument zugeschickt, das offiziell das „vorläufige (!) Ruhen der Schulpflicht“ anordnet bei gleichzeitiger Aufforderung an die Eltern, ihr Kind doch bitte längerfristig (!) in der Psychiatrie oder einer sonstigen, geeigneten Einrichtung unterzubringen.

Die ausführliche Begründung in dem Bescheid liest sich wie eine Klageschrift. Kennt man allerdings die Formen der Behinderung, wird einiges deutlicher. Allein die Beschreibung des Vorfalls, der letztendlich zur Ausschulung führte, zeigt die pädagogische Hilflosigkeit der qualifizierten Förderlehrer: Der Junge musste mit seiner Klasse einen Film anschauen, er kann nicht mitteilen, dass ihm das zu viel wird. Also verließ er den Klassenraum, wurde zurückgeholt und trotz großer Unruhe gezwungen weiterzuschauen. Daraufhin brach er in die für Autisten typische Aggression aus. Nach dem Bericht des Schulamtes ging er zunächst direkt auf den Flachbildschirm in der Klasse los. Hat keiner der anwesenden Pädagogen verstanden, dass er, der nicht sprechen kann, auf seine Art die Angst vor dem Fernseher ausdrückte? Er war augenscheinlich mit der Reizüberflutung aus diesem Gerät überfordert.

Die Mutter schreibt einen mehrseitigen Widerspruch, sie beschreibt, warum und wie es zu solchem Verhalten ihres Jungen aufgrund seiner Behinderung kommt, sie macht Lösungsvorschläge. Sie fordert, dass die doch auf schwere Behinderungen spezialisierte Schule angemessen mit ihrem Sohn umgehen solle, sich auf seine Form der Behinderung einstellen und mit ihm entsprechend arbeiten solle. Es kommt zum runden Tisch. Doch dort stellt die Schulbehörde fest, dass die Vorgehensweise bisher angeblich korrekt gewesen sei. Das hessische Schulgesetz sieht allerdings ein völlig anderes Verfahren vor! Als Ergebnis der Besprechung am runden Tisch wurde dann an den Wünschen der Eltern vorbei, die auf gezielte, kleinschrittige pädagogische Maßnahmen drängten, um die Beschulung zumindest stundenweise wiederaufnehmen zu können, beschlossen, der Junge müsse erst in eine Therapie, bevor man ihn weiter beschule. Nun wartet er zuhause auf einen der seltenen Therapie-Plätze für Autisten. Die Eltern staunen: Diese Einzeltherapie ein- bis zweimal wöchentlich soll dann dazu beitragen, dass die Lehrkräfte (alles ausgebildete Sonderpädagogen in einer kleinen Klasse im sogenannten „geschützten Umfeld“ der Förderschule) wieder mit ihm klarkommen? Eine Fortbildung der Pädagogen der Schule ist dagegen nicht vorgesehen.

Bei uns bleiben Fragen: Warum brauchte das Schulamt so lange, um sich um den Fall zu kümmern? Es besteht Schulpflicht in Deutschland, doch bei schwierigen Kindern nicht? Warum fragt niemand nach den Ursachen des Verhaltens des Jungen? Warum spielt das Staatliche Schulamt weiterhin auf Zeit, anstatt nach Lösungen zu suchen. Unserer Ansicht nach handelt es sich um ein pädagogisches und nicht um ein medizinisches Problem.

Auf den mehrseitigen, ausführlichen Widerspruch reagiert das Staatliche Schulamt nicht. Auf Anfragen wird von dort auf das Ergebnis des runden Tisches verwiesen. Die Schulbehörde verschiebt nun also mal wieder das Problem zu den Eltern. Wenn diese einen Therapieplatz haben, dann könne man auch wieder über Beschulung nachdenken. Der Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule wird nicht ernst genommen, die Schulbehörde entledigt sich des Problems, indem sie auf eine andere Institution verweist. Sie hat in der Regel auch keinerlei Konsequenzen zu befürchten. Bleibt sie untätig, müssten die Eltern ihrerseits die Kraft aufbringen, eine Untätigkeitsklage zur Erstellung eines rechtsgültigen Bescheides anzustrengen, um dann gegen diesen Bescheid zu klagen. Eine Klage, auch wenn diese große Aussicht auf Erfolg hat, dauert aber mindestens zwei Jahre. 

Ein Flüchtlingskind mit bekannter Diagnose im Bereich der Autismus-Spektrum Störung wurde regulär einer Frankfurter Grundschule zugewiesen. Der Junge ist traumatisiert durch die Fluchterfahrung und leidet darunter, dass seine Behinderung nicht wahrgenommen wird. Es gibt massive Probleme in der Grundschule, Inklusion sei angeblich nicht möglich, da der Junge für die Lehrer unberechenbar reagiert und sich nicht an die Regeln hält. Sonderpädagogische Förderung bekommt er jedoch auch nicht, die Schule verlässt sich auf die Teilhabeassistenz. Als diese dann ausfällt, wird das „vorläufige Ruhen der Schulpflicht“ angeordnet.

Der Ausschulungsbescheid des Staatlichen Schulamtes an die Eltern zeigt das Ausmaß der defizitäre Betrachtung von Kindern mit Behinderungen durch die Schulbehörde: Vom Jungen gehen die Probleme aus. Mit keinem Satz wird erwähnt, dass die Schule pädagogische Maßnahmen ergriffen habe, um ihm zu helfen. In einem Nebensatz wird dann lapidar und ohne Begründung festgestellt: „Ihr Sohn ist derzeit auf keiner Schule mehr beschulbar“. Angeordnet wird das „vorläufige Ruhen der Schulpflicht“, angekündigt wird das „endgültige Ruhen der Schulpflicht“. Dafür macht sich die Juristin des Staatlichen Schulamtes dann auch große Mühe, die Paragraphen des Schulgesetzes zu beschreiben, die das angeblich legitimieren. Sie betont sogar eigens, man werde auch den verwaltungsrechtlichen Verfahrensweg einhalten. Im Bescheid wird also in epischer Breite die Ermächtigungsgrundlage zur Ausschulung geschrieben, das Bemühen um Verständnis für die Behinderung und die individuelle Situation dagegen fehlt vollkommen. Auf mögliche Unterstützungsmaßnahmen, die Ausschöpfung von Ressourcen im Rahmen der sonderpädagogischen Förderung wird nicht eingegangen. Auch muss die Schulbehörde nicht mit  Konsequenzen rechnen, obwohl sie gerade dabei ist, sich ihrer Pflichten im Hinblick auf Bildungs- und Erziehungsauftrag zu entledigen und das Kind aus dem System zu entfernen. 

Das Höchster Kreisblatt (5.4.2016) berichtet von einem Problemkind mit Autismus und Hochbegabung:

„Im Fall eines Viertklässlers der Geschwister-Scholl-Schule hat das Staatliche Schulamt sie von sich aus angeordnet. Fast vier Wochen hat Vito (zum Schutz des Kindes wählen wir hier einen anderen Namen) die Grundschule nicht mehr besuchen dürfen. Für die Mutter ist dies ein Unding. Deshalb ist sie nicht nur gerichtlich gegen die Freistellung vorgegangen, sie hat auch das Kreisblatt eingeschaltet. Vito hat, wie ein Test ergeben habe, einen IQ von 145, das ist weit über dem Durchschnitt. Der Neunjährige hat allerdings auch eine Autismus-Spektrums-Störung, also eine Entwicklungsstörung aus dem vielfältigen Erscheinungsbild autistischer Veranlagungen. Die entsprechende Diagnose wurde im vergangenen Jahr von einer Frankfurter Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie erstellt. Eine der Maßnahmen, die die Spezialistin dringend anriet, wurde umgesetzt. Der Junge hat seitdem einen Schulbegleiter, den das Jugendamt für 30 Stunden bewilligt hat. Trotzdem kam es in den vergangenen Monaten immer wieder zu Problemen in der Grundschule. Ein erster Schulausschluss wurde durch das Staatliche Schulamt in Rüsselsheim für die Zeit vom 26. Februar bis zum 4. März verfügt. Dagegen wehrte sich die Mutter erfolgreich vor Gericht, vor allem, weil es einen Formfehler gab. Nur einen Tag nach Vitos Rückkehr in die Schule erhielt die Mutter einen neuen Bescheid über die Aufhebung der Schulpflicht. Auch gegen diesen ging die Mutter gerichtlich vor, eine Entscheidung wird noch in den Osterferien erwartet. Die Klassenlehrerin habe ihr gegenüber bezweifelt, dass Vito unter einer Autismus-Spektrums-Störung leide, und gesagt, schuld seien Erziehungsfehler, und der Junge gehöre auf eine Förderschule, sagt die Mutter. Das Staatliche Schulamt macht deutlich, dass man erst einmal eine „vernünftige Diagnostik“ für Vito wolle und zudem, dass dieser eine Therapie beginne.“ (Artikel gekürzt.)

Auch hier wieder der Verweis auf die Therapie, auf eine außerschulische Institution, die das Problem für das Staatliche Schulamt lösen soll. Ein anderes Gutachten soll her, denn mit der erstellten Diagnose kommen die Pädagogen nicht klar. Viele Eltern berichten, dass sie bei Schwierigkeiten mit dem Kind erst einmal von Arzt zu Arzt geschickt werden, damit sie ein Gutachten beibringen, dass die Schulbehörde für geeignet hält. Der Ruf nach immer neuer Diagnostik hat den „Vorteil“, dass das Kind zwischenzeitlich nicht in die Schule geht. Also den Betrieb nicht stört.

Eltern von autistischen Kindern berichten uns immer wieder, dass man auch häufig den formalen Rechtsakt der Ausschulung zu vermeiden versucht. Diese Eltern werden gebeten, ihre Kinder durch den behandelnden Kinder- und Jugendpsychiater krankschreiben zu lassen. Es sollen also die Eltern selbst dafür sorgen, und das an anderer Stelle, dass die „Schulunfähigkeit“ ihres Kindes attestiert wird.

Wir beschweren uns, dass die Bringschuld für das Recht des Kindes auf Bildung und Erziehung den Eltern auferlegt wird. Wir müssen uns damit abfinden, dass offiziell erklärt wird, es liege am Kind, dass es nicht beschulbar sei. Wir fühlen uns mit unseren Sorgen um die Zukunft unserer Kinder allein gelassen. Doch uns vermittelt das auch den Eindruck von Überforderung eines Systems. Die Schulverwaltung legt lieber kreatives Handeln an den Tag, um die sogenannten „verhaltenskreativen“ Schüler loszuwerden, anstatt sich um das einzelne Kind zu bemühen, wie es das Schulgesetz eigentlich vorsieht.

Um das schulische Lernen von Vito muss sich die Mutter, wie die übrigen betroffenen Eltern auch, nun selbst kümmern. Bei den Eltern liegt die Bringschuld auch für das Gelingen der Wiederaufnahme der Schule. Wenn sie sich weigern, ihr Kind für die erneute Diagnose in die Psychiatrie zu geben und einen individuellen Therapieplatz zu finden, gelten sie als unkooperativ.

Dabei hat der Verweis auf die Psychiatrie allmählich System: Es ist das „Wegorganisieren“ eines Problems für die Schulbehörde. Um das Kind selbst geht es dann schon lange nicht mehr.

Im Main-Taunus-Kreis geht ein Junge mit Diabetes und Verhaltensstörung in die Grundschule. Die Lehrerin kommt mit dem Jungen nicht klar, sie holt sich jedoch keine Hilfe. Der I-Helfer ist nur für die Diabetes da, mit der sozialen Problematik und der sich stetig verschlechternden Beziehung zwischen Kind und Lehrerin überfordert. Die Situation eskaliert mehr und mehr, der Junge wird zum Außenseiter, Respekt und Wertschätzung vermisst er immer mehr. Dementsprechend verschlechtert sich sein Verhalten der Lehrerin und den anderen gegenüber. Das Staatliche Schulamt ordnet auf Antrag der Schule und ohne vorhergehende Anhörung der Eltern das Ruhen der Schulpflicht an, ohne überhaupt überprüft zu haben, ob die im Schulrecht vorgesehenen Maßnahmen zur Prävention und zur individuellen Förderung umgesetzt wurden. Die Akteneinsicht ergibt jedoch: Es ist nichts in der Hinsicht passiert, noch nicht einmal das zuständige Beratungs- und Förderzentrum (BFZ) wurde eingeschaltet.

Die Mutter wechselt den Schulamtsbezirk. Im Gespräch mit dem zuständigen Dezernenten des neuen Schulamtsbezirks gibt dieser immerhin mündlich zu, dass es wohl in der Schulbehörde ein paar Formfehler gegeben habe. Doch diese Erkenntnis bleibt folgenlos. Auch das neu zuständige Staatliche Schulamt verharrt in abwartender Haltung, die Eltern sind auf sich selbst gestellt auf der Suche nach einer alternativen Beschulungsmöglichkeit für ihr Kind, allein gelassen mit ihren Sorgen und mit der Verantwortung für Bildung und Erziehung ihres Kindes.

Die Akte vermittelt recht anschaulich den Eindruck von Hilflosigkeit, die zur Ausgrenzung führt, von einer sich immer weiter abwärts drehenden Spirale in der Beziehung zwischen der Lehrerin und dem Kind, zwischen dem Elternhaus und der Schulbehörde. Am Ende wird es zu einem Fall von Mobbing. Und gerade dies sollte die Schulaufsichtsbehörde doch eigentlich verhindern. Statt mal eben das Ruhen der Schulpflicht anzuordnen, wäre es doch so wichtig, die Mediation einzuleiten, die Sorgen der betroffenen Lehrer und der Eltern anzuhören, differenzierte Maßnahmen zu formulieren, erste Schritte zu planen, die zu einer Veränderung der Situation führen, vorhandene Ressourcen zu suchen, abzuwägen und auszuschöpfen, eine Prozessbegleitung anzubieten.

Auch sieben Jahre nach Ratifizierung der UN-BRK hat sich das neue Verständnis von Behinderung noch nicht herumgesprochen. Doch Behinderungen sind nicht nur medizinisch festgestellte Einschränkungen des Einzelnen im körperlich/seelisch/geistige Bereich, sondern ebenso das Resultat von Barrieren und Behinderungen durch das Umfeld. Wer sich aber dem Schulsystem nicht anpasst oder anpassen kann, der wird ausgegrenzt und findet sich recht schnell außerhalb des Systems wieder. Dabei besteht ein Auftrag, der den Staat verpflichtet, ein inklusives System aufzubauen, eines das Barrieren überwindet und angemessene Vorkehrungen schafft, damit jeder Schüler und jede Schülerin aktiv teilhaben kann. Wann sind wir endlich bereit, dazu den ersten Schritt zu gehen, anstatt es uns einfach zu machen und auszugrenzen, was nicht passend erscheint? Ausschulung ist das absolute Gegenteil von Inklusion. Sie als Mittel leichtfertig anzuwenden, ist für uns Eltern der Offenbarungseid eines schwächelnden Systems. Es müssen vielmehr Wege gesucht werden, auch diese Schüler mitzunehmen, die das System vor besondere Herausforderungen stellen. Auch das hat die Bundesregierung mit der Unterzeichnung der UN-BRK allen verpflichtend mit auf den Weg gegeben: Eine Schule für alle, ohne Diskriminierung.