Verzicht auf Ziffernnoten ist eine unabdingbare Voraussetzung
Schulversuch im Kreis Offenbach
Im Rahmen des hessischen Schulversuchs „Begabungsgerechte Schule“ (2009-2013) sind an vier Grundschulen im Kreis Offenbach inklusionsorientierte Entwicklungsprozesse von einer internen wissenschaftlichen Begleitung und einer externen Evaluation unterstützt, beobachtet, dokumentiert und ausgewertet worden. Aus den vorliegenden Berichten lassen sich relevante Hinweise für die inklusive Schul- und Unterrichtsentwicklung entnehmen. Dabei kommt insbesondere der Leistungsbewertung eine zentrale Bedeutung zu. Leider knüpfen die Überlegungen, die Ergebnisse des Modellversuchs in „Modellregionen“ in die Fläche zu übertragen, in keiner Weise an die konzeptionellen, personellen und räumlichen Bedingungen des Modellversuchs an. Stattdessen versucht die schwarz-grüne Landesregierung, Schulträger und Schulen mit völlig unzureichenden Standards abzuspeisen, die weit hinter denen des „erfolgreichen Modellversuchs“ zurückbleiben.
Eigentliche Auslöser für die politische Initiative zu dem Schulversuch durch den Landkreis Offenbach als Schulträger waren der marode bauliche Zustand einer Schule für Lernhilfe und die Notwendigkeit, das Gebäude aufzugeben und die Schule auslaufen zu lassen. Konzeptionell orientiert sich der Schulversuch jedoch an dem Leitbild der Inklusion und den Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK).
Der Schulversuch hebt sich deutlich von der derzeit vorherrschenden bildungspolitischen Praxis ab, Inklusion auf eine schulorganisatorische Aufgabe zu reduzieren und in das unhinterfragte selektive Schulsystem zu implementieren. Mit dem Verzicht auf die herkömmliche formale Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Lernen, einhergehend mit einer Grundausstattung der Schulen mit Sonderpädagogen und Sozialpädagogen, und dem Verzicht auf traditionelle Ziffernnoten und Klassenwiederholungen sind Alternativen in der Organisation der sonderpädagogischen Förderung und in der Leistungsbewertung angewendet und erprobt worden.
Die im Sommer 2014 vorgelegten wissenschaftlichen Berichte zur „Beratung und Unterstützung der beteiligten Lehrkräfte sowie zur Dokumentation der Lern-und Leistungsfortschritte der Schülerinnen und Schüler“ unter der Leitung von Reimer Kornmann (ehemals Professor für Sonderpädagogik an der PH Heidelberg) sind im Internet zugänglich.
Mehr als eine schulorganisatorische Maßnahme
Der Bericht beschreibt schulorganisatorische und administrative Regelungen zur Nicht-Aussonderung von Kindern als wichtige Voraussetzungen auf dem Weg zur Inklusion. Damit jedoch gewährleistet ist, dass alle Kinder des Einzugsbereichs einer Schule sich achten, einander helfen, Lernfreude entwickeln, sich in „lernergiebiger Weise“ betätigen, „entwicklungsförderliche Erfahrungen“ machen, „selbst bei unterschiedlichen Voraussetzungen tragfähige Zugänge zu den gemeinsamen Lerninhalten“ erhalten, ihr individuelles Potential ausschöpfen und sich als „individuell geschätztes, wichtiges Mitglied der Lerngemeinschaft“ erleben, muss die pädagogische Arbeit eine inklusive Qualität entwickeln.
Anhand von Einzelfallstudien beschreibt der Bericht, wie wichtig die Einstellung und das Verhalten der Lehrkräfte ist. Bei Kindern, die sich trotz schwerwiegender Lernprobleme und Verhaltensauffälligkeiten „erwartungswidrig“ positiv entwickelten, ließen die verantwortlichen Lehrkräfte
„keinerlei Zweifel daran aufkommen (…), dass diese Kinder in dieser Schule und in dieser Klasse an dem richtigen Platz seien, auch wenn sie zeitweise die üblichen Regeln nicht einhalten mussten oder außerhalb des Unterrichts betreut wurden. Zielsetzung dieser besonderen Maßnahmen war es stets, ihnen einen sicheren Platz in der Lerngemeinschaft einzuräumen“.
Insgesamt belegt der Bericht auf der Basis dokumentierter erfolgreicher Entwicklungsverläufe und der in Unterrichtsbeobachtungen gesammelten positiven Beispiele „inklusiv wirkender Aktivitäten zur Gestaltung des Schullebens und des Unterrichts im Schulversuch“, dass inklusive pädagogische Arbeit an die Entwicklung und Pflege einer Lern- und Leistungskultur gebunden ist,
„die von Hilfsbereitschaft, Toleranz und gegenseitiger Wertschätzung getragen ist und die den immer wieder aufkommenden Tendenzen von Konkurrenzorientierung beim schulischen Lernen Einhalt gebietet“.
Im Zentrum der im Schulversuch erprobten Unterrichtsentwicklung stand die Kernthese, dass der bewusste Verzicht auf Ziffernnoten „entscheidend für die glaubwürdige und erfolgreiche praktische Umsetzung einer solchen inklusiven Kultur ist.“
Die wissenschaftliche Begleitung konnte davon ausgehen, dass unabhängig von der Inklusionsdebatte seit langem gesicherte erziehungswissenschaftliche Erkenntnisse darüber vorliegen, dass Ziffernnoten keine präzisen Aussagen über den Leistungsstand machen, intransparent bezüglich der Qualität des Unterrichts, der Leistungsanforderungen und -erwartungen sind und keinesfalls das Kriterium der Objektivität erfüllen.
Dagegen sind ihre zahlreichen negativen Effekte wie konkurrenzorientiertes Wettbewerbsverhalten, Leistungsdruck, angepasstes Fehlervermeidungsverhalten, Entmutigung, Beschämung, Diskriminierung, Schulangst und Schulabsentismus bei Schülerinnen und Schülern nachgewiesen. In heterogenitätsbewussten, inklusiven Lernprozessen wäre es erst recht pädagogisch widersinnig, die Leistungen der unterschiedlichen Kinder im gemeinsamen Lernen miteinander zu vergleichen und in eine Rangfolge zu bringen.
Vor diesem Hintergrund verfolgte die wissenschaftliche Begleitung im Schulversuch das Ziel, die Lehrkräfte vertraut zu machen mit alternativen Formen der Dokumentation von Lern-, Arbeits-, Sozialverhalten und schulischen Leistungen. Über eigene praktische Erfahrungen und pädagogische Reflexion sollten die Lehrkräfte außerdem befähigt werden, auch gegenüber Eltern argumentativ den Verzicht auf Noten zu begründen. Ein gezieltes Fortbildungsprogramm unterstützte diese Lernprozesse.
In Lehrerteams wurden als Alterative zu den Ziffernnoten an allen beteiligten Grundschulen in den vier Jahrgängen für Deutsch und Mathematik – auch unter Anleitung – Kompetenzraster entwickelt. Sie wurden so angelegt, dass sie die Ergebnisse erfolgreicher Lerntätigkeiten zu bestimmten Zeitpunkten abbilden. Dafür wurden in Ich-Form positiv formulierte Aussagen zu curricularen Kompetenzen, „die ein Kind entweder bereits erworben hat oder die es noch in seinen späteren Lernprozessen erwerben sollte“, formuliert. Die Lehrkräfte notierten dazu ihre Einschätzungen und Anmerkungen. In Ergänzung zu den Kompetenzrastern wurde zur Dokumentation und Reflexion von Lernprozessen und Arbeitsergebnissen auch die Arbeit mit Portfolios im Unterricht eingesetzt. Bei Kindern mit auffälligen Problemen beim Erwerb schriftsprachlicher und mathematischer Kompetenzen wurden informelle förderdiagnostische Tests eingesetzt, um Erkenntnisse für die Förderplanung zu gewinnen.
Schülerleistung und soziale Integration
Der Bericht der internen Begleitforschung stellt heraus, dass mit den Impulsen der neuen Lern- und Leistungskultur Kinder im unteren Leistungsbereich deutliche Lernerfolge erzielen konnten. Ihr Urteil wird gestützt durch Befunde der externen Evaluation unter der Leitung von Prof. Katzenbach. Für die Untersuchung der Leistungsentwicklung wurde eine Kontrollgruppe aus dem Einschulungsjahrgang vor Beginn des Schulversuchs gebildet. Untersucht und verglichen wurden die Lernbereiche Mathematik, Schreiben und Lesen. Zu den Schulleistungen von Schülerinnen und Schüler mit ungünstigen Lernvoraussetzungen stellt der externe Evaluationsbericht fest, dass am Ende des vierjährigen Schulversuchs „keine statistisch signifikanten Differenzen des Jahrgangs 2009 gegenüber dem Kontrolljahrgang trotz einer deutlich schlechteren Ausgangslage“ zu finden sind:
„Offensichtlich gelingt es den Schulen in hohem Maße, unterschiedliche Lernausganglagen zum Schuleintritt auszugleichen. (…) Resümierend kann festgehalten werden, dass sich der Befund vieler Begleitforschungen auch hier bestätigt: Weder finden wir nennenswerte Leistungseinbußen noch spektakuläre Leistungszuwächse.“
Auch bezogen auf die soziale Integration der Schülerinnen und Schüler mit Leistungsschwächen sind zwischen den Jahrgängen des Schulversuchs und den Kontrolljahrgängen laut Bericht keine auffälligen Unterschiede zu verzeichnen.
Akzeptanz der „notenfreien“ Grundschule
Schon vor Schulversuchsbeginn war ein ausgeprägtes Problembewusstsein bezüglich der Sinnhaftigkeit von Ziffernnoten bei den meisten Grundschullehrkräften vorhanden. Die Arbeit mit den selbst entwickelten Kompetenzrastern wurde als sehr positiv und bereichernd empfunden. Es wurde erkannt, dass damit nicht nur die erreichte Schülerleistung präziser erfasst und bewertet werden kann, sondern zugleich diagnostische und unterrichtspraktische Zwecke erfüllt werden, weil über den erreichten Leistungsstand hinaus auch Aussagen über noch zu entwickelnde Kompetenzen gemacht werden.
40% der Eltern verhielten sich hingegen skeptisch bis ablehnend zu der Umstellung. Die negative Einschätzung war in der Regel verbunden mit den antizipierten Übergängen zu den weiterführenden Schulen. Insbesondere bestand Besorgnis, dass das Gymnasium die Schülerinnen und Schüler aus dem Schulversuch ablehnen könnte. Dass auch in der Abschlussbefragung nur 62 % der Frage zustimmten, ob in Zukunft an allen Grundschulen so gearbeitet werden solle wie im Schulversuch, steht in einem hochsignifikanten Zusammenhang mit der Ablehnung der neuen Arbeitsweise und Leistungsbewertung.
Insgesamt bestätigt der Schulversuch den für die Entwicklung einer inklusiven Pädagogik unabdingbaren Verzicht auf vergleichende Ziffernnoten und die pädagogische Brauchbarkeit von Kompetenzrastern, die auf einem heterogenitätsbewussten didaktischen Unterrichtskonzept mit Individualisierung und Differenzierung aufsetzen. Die Schulen im Schulversuch werden ausdrücklich darin ermutigt, die „entwickelten Verfahren selbstbewusst zu vertreten und diese primär aus ihrem eigenen pädagogischen Auftrag heraus zu begründen, statt sich den von außen gesetzten Verwertungsansprüchen zu unterwerfen“.