Teilhabe maximieren, Diskriminierung minimieren
HLZ 11/2014: Lehrerausbildung in Hessen
Die Enquetekommission des Hessischen Landtags über „Rahmenbedingungen, Chancen und Zukunft schulischer Bildung“ tut es, der „Bildungsgipfel“ der Hessischen Landesregierung tut es, und auch die GEW tut es: Sie diskutieren unter anderem über die Zukunft der Lehrerausbildung in Hessen, über die Ein- oder Zweiphasigkeit, über das Praxissemester, über die Arbeitsbedingungen der Ausbilderinnen und Ausbilder und die Ausbildungsbedingungen der Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst und auch über die Zukunft der streng nach Schulformen getrennten Lehrämter und über das Lehramt an Förderschulen. Franziska Conrad wirft einen ersten Stein ins Wasser und plädiert für eine Integration der förderpädagogischen Ausbildung in ein einheitliches Lehramt für die Sekundarstufe. Die HLZ freut sich auf eine kontroverse Debatte.
Gemeinhin wird mit dem Begriff der Inklusion die Eingliederung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf ins allgemeine Schulsystem begriffen. Dies stellt jedoch eine Verengung des Begriffs der Inklusion dar. Inklusion im pädagogischen Bereich setzt sich grundlegend mit dem Umgang mit Differenz auseinander und begreift Differenz als den Regelfall in Schule und Gesellschaft. Die Fokussierung auf die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen birgt die Gefahr, dass andere Benachteiligungen und ihr Einfluss auf die Bildungsbiografie aus dem Blick geraten. So ist erwiesen, dass Schülerinnen und Schüle mit Migrationshintergrund und niedrigem sozioökonomischem Status in Förderschulen überrepräsentiert sind. Nicht die sogenannte Behinderung ist der Grund für die Zuweisung in die Förderschule, sondern gesellschaftliche Ungleichheit. Es geht bei Inklusion eben nicht nur um die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen, sondern um das Ziel der „Minimierung von Diskriminierung und Maximierung von sozialer Teilhabe“ (1). Da kann es nicht sein, dass diejenigen außen vor bleiben, die zur Risikogruppe der sozial Schwachen gehören, während Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen besonderer Förderbedarf gewährt wird.
Die Sicht der Kultusministerkonferenz
Dieses Verständnis von Inklusion steht in einem grundlegenden Widerspruch zu einem gegliederten exkludierenden Schulsystem. Dies wird auch daran deutlich, dass im Primarbereich, in der Grundschule, in der alle Kinder gemeinsam lernen, die inklusive Schulentwicklung eher voranschreitet als im Sekundarbereich. Das Gymnasium hingegen kann sich am ehesten von inklusiver Schulentwicklung abschotten. Die Umwandlung des segregierenden Schulsystems in ein inklusives braucht Zeit, Ressourcen und richtige bildungspolitische Weichenstellungen – auch in der Lehrerausbildung. Lehrkräfte arbeiten nach ihrer Zweiten Staatsprüfung durchschnittlich 35 Jahre im Schulwesen: Grund genug, sich zu überlegen, wie eine Lehrerausbildung für eine inklusive Schule aussehen könnte. Gegenwärtig spiegelt die Lehrerausbildung in Hessen die Vielgliedrigkeit des exkludierenden Schulsystems wieder. Es gibt getrennte Studiengänge für die Lehrämter an Grundschulen, an Hauptschulen und Realschulen, an Gymnasien, an beruflichen Schulen und an Förderschulen. Dass eine solche Auffächerung in fünf Lehramtstypen nicht für den inklusiven Unterricht vorbereitet, hat die Kultusministerkonferenz (KMK) erkannt. Nach einem KMK-Beschluss vom Dezember 2012 soll „den pädagogischen und didaktischen Basisqualifikationen in den Themenbereichen Umgang mit Heterogenität und Inklusion sowie Grundlagen der Förderdiagnostik“ in der Ausbildung für alle Lehrämter eine besondere Bedeutung zukommen. In diesem Sinn äußerte sich im Juni 2014 auch die Präsidentin der KMK und nordrhein-westfälische Schulministerin Sylvia Löhrmann:
„Angehende Lehrkräfte müssen gründlich auf die Herausforderung Inklusion vorbereitet sein. Sie müssen über Kompetenzen in den Bereichen Diagnose und inklusive Didaktik verfügen, um Lehr- und Lernprozesse individuell zu gestalten. Hinzu kommen perspektivisch Kompetenzen für eine durchgängige Sprachförderung in allen Fächern. Darüber hinaus müssen Lehrerinnen und Lehrer auch in die Lage versetzt werden, mit anderen Professionen und Einrichtungen zu kooperieren.“ (2)
Auch die Überarbeitung der KMK-Standards für die Lehrerausbildung berücksichtigt die Anforderungen einer inklusiven Schule: „Lehrerinnen und Lehrer kennen die sozialen und kulturellen Lebensbedingungen, etwaige Beeinträchtigungen und Barrieren von und für Schülerinnen und Schüler und nehmen im Rahmen der Schule Einfluss auf deren individuelle Entwicklung.“ (Kompetenzbereich Erziehen)
„Diese Beschreibung schließt Behinderungen im Sinne der Behindertenrechtskonvention ein. Sie trägt zugleich dem Umstand Rechnung, dass die im bildungswissenschaftlichen Kompetenzbereich ‚Erziehen‘ zu berücksichtigende Unterschiedlichkeit sich nicht vor allem durch eine Behinderung begründet.“
Die Zukunft des Lehramts an Förderschulen
Dieses Verständnis von Heterogenität ist einleuchtend. Aber wie soll das dazu passen, dass Lehrkräfte weiterhin als Haupt-, Real-, Förderschul- oder Gymnasiallehrkräfte ausgebildet werden? Zwei Experten-kommissionen unter der Leitung von Jürgen Baumert in Berlin (2012) und von Sybille Volkholz in Baden-Württemberg (2013) waren sich einig, dass auch in Zukunft Lehrkräfte notwendig sind, die über sonderpädagogische Spezialqualifikationen verfügen; diese sollten aber gleichzeitig in einer Grund- oder Sekundarschule als vollverantwortliche Lehrkräfte unterrichten können. Sie empfahlen deshalb, das bisherige Lehramt an Förderschulen aufzugeben und die Sonderpädagogik als fachlichen Schwerpunkt im Rahmen der übrigen Lehrämter zu verankern. Um die Qualität der bisherigen sonderpädagogischen Ausbildung zu erhalten, sollte die sonderpädagogische Spezialisierung an die Stelle eines Unterrichtsfachs treten. Dies ist aus Sicht der Bildungsforschung der aussichtsreichste Weg, um angehende Lehrkräfte für die inklusive Schule auszubilden.
Neben der Diskussion über das eigenständige Lehramt für Förderschulen haben die Bundesländer Berlin und Bremen damit begonnen, die Lehrämter für die Sekundarstufe I und für die Sekundarstufe II zu einem einheitlichen Lehramt für die Sekundarstufe zusammenzulegen. Auch das Land Schleswig-Holstein bringt vergleichbare Änderungen auf den Weg.
Die Zusammenlegung der Lehrämter für die Sekundarstufe I und das Gymnasium erfolgt vor dem Hintergrund der Entwicklung zu einem zweigliedrigen Schulwesen, in dem sowohl das Gymnasium als auch Gesamt- oder Gemeinschaftsschulen zum Abitur führen. Beide Schulformen benötigen Lehrkräfte mit der Befähigung, sowohl in der Mittelstufe als auch in der Oberstufe zu unterrichten.
Wie viele Lehrämter braucht die inklusive Schule?
Gegenwärtig erhalten wohl die Lehrkräfte mit gymnasialem Lehramt die beste fachliche Ausbildung. Und die ist unverzichtbar, wie die COAKTIV-Studie von Jürgen Baumert, Mareike Kunter und anderen gezeigt hat: Danach erzielen die Lehrkräfte die besten Lernerfolge, die fachlich und fachdidaktisch gut ausgebildet sind. Warum sollten aber Schülerinnen und Schüler, die nicht das Gymnasium besuchen, weniger gut ausgebildete Lehrkräfte haben? Gerade die Jugendlichen, die zur Risikogruppe im Bildungswesen gehören, benötigen fachlich, fachdidaktisch und pädagogisch gut ausgebildete Lehrkräfte. Ein einheitliches Lehramt für die Sekundarstufe, das Lehrkräften ermöglicht, Schülerinnen und Schüler bis zum Abitur zu unterrichten, erfordert somit eine fundierte fachliche und fachdidaktische Ausbildung, die in allen Schulformen der Sekundarstufe von Nutzen ist und allen Lernenden zugutekommt. Eine solche fundierte Ausbildung von Lehrkräften, die in beiden Sekundarstufen unterrichten, braucht Zeit, das heißt ein zehnsemestriges Lehramtsstudium.
Die Trennung in ein Lehramt für Haupt-, Real- und Gesamtschule und ein Lehramt für Gymnasien stabilisiert das mehrgliedrige Schulsystem und behindert eine inklusive Schulentwicklung. Dasselbe gilt für das separate Lehramt für die Förderschule, das schon vom Namen her das Weiterbestehen der Förderschule voraussetzt und damit die Inklusion behindert. Andererseits muss die Expertise der Förderpädagogik erhalten und weiterentwickelt werden. Daher ist die Inklusion förderpädagogischer Schwerpunkte in das Studium des Lehramts für Grundschulen und für Sekundarschulen wünschenswert und notwendig. Auch die Idee, dass Studierende als eines der beiden vorgeschriebenen Unterrichtsfächer auch einen sonderpädagogischen Förderschwerpunkt wählen können, ist aus meiner Sicht zu begrüßen.
Solche Lehrkräfte sind imstande, in heterogenen Klassen die Lernenden so individuell wie möglich zu fördern. Sie würden den fachlichen, „diagnostischen“ und pädagogischen Auftrag eher als Zusammenhang sehen, als es momentan der Fall ist. Allzu häufig begreifen sich gegenwärtig Lehrkräfte, die für das Lehramt an Gymnasien studieren, schwerpunktmäßig als Fachlehrerinnen und Fachlehrer und blenden gern den pädagogischen Teil ihrer Tätigkeit aus, während Lehrkräfte für das Lehramt für Haupt- und Realschulen sich häufig als Pädagoginnen und Pädagogen definieren. „Für diese Schülerinnen und Schüler bin ich nicht ausgebildet“ – einem solchen Satz würde man mit einer „inklusiven“ Lehrerausbildung die Grundlage entziehen. Ein solches Lehramtsstudium würden diejenigen wählen, die an ihrem Fach und am Lernen der Jugend-lichen gleichermaßen interessiert sind. Solche Lehrkräfte hätten das Interesse und die Kompetenz, in multiprofessionellen Teams zusammen mit sozialpädagogischen Fachkräften, Sozialarbeitern, Lernbegleitern und medizinischem Personal zu arbeiten.
Auf den Lehrer kommt es an
Die Weichen für die Schule der Zukunft werden in den politischen Gremien, aber auch in der Lehrerausbildung gestellt. Wenn die Schule der Zukunft eine inklusive Schule sein soll, die allen Jugendlichen bestmögliche Förderung gewährt, dann muss auch die Lehrerausbildung eine inklusive sein. Die Bildungspolitik zitiert zurzeit gern John Hattie: „Auf den Lehrer kommt es an.“ Voraussetzung ist eine optimale fachliche, fachdidaktische, diagnostische und pädagogische Ausbildung. Solche Lehrkräfte haben ausnahmslos alle Schülerinnen und Schüler verdient – Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen, aus bildungsbürgerlichem Milieu und auch aus „bildungsfernen“ Schichten. Eine solche Lehrerausbildung wäre ein wichtiger Beitrag zu einem Bildungswesen, das Diskriminierung abbaut und Chancengerechtigkeit verwirklicht.
(1) Rolf Werning: Inklusive Pädagogik – Eine Herausforderung für die Schulentwicklung. In: Lernende Schule, H. 55, 2011, S. 4–8; Rolf Werning und Botho Preibe: Ansprüche und Widersprüche auf der Großbaustelle „Inklusion“. In: Lernende Schule, H. 67, 2014, S. 9(2) Pressemitteilung vom 13. Juni 2014 (www.kmk.org > Presse und Aktuelles > Pressemitteilungen > Archiv)(3) www.mpib-berlin.mpg.de > Suche: Coactiv