Schwarzbuch Inklusion

Aufzeichnungen zur Pressekonferenz am 4. September 2013 in Darmstadt

 

„ Wo sind die Erfolgsgeschichten?“, fragt das Kultusministerium. Wir fragen zurück: Wo sind sie?

Das Ministerium weist Kritik als absurd zurück und argumentiert mit beeindruckenden Zahlen von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die in Regelschulen unterrichtet werden. Das Ministerium vergisst: Es geht nicht um eine bloße räumliche Zusammenführung von Kindern. Es geht um Qualität, es geht um hochwertigen Unterricht und um angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen. Von all dem kann in Hessen keine Rede sein.
Was würde man davon halten, wenn die Bahn Kritik an ausfallenden Zügen, defekten Zugtoiletten ausgefallenen Klimaanlagen und überfüllten Zügen damit kontern würde, dass die Fahrgastzahl im Vergleich zum Vorjahr gestiegen sei?

„Nur“ 140 mal haben Behörden entschieden, dass ein Kind in die Förderschule gehen muss, sagt die Ministerin. Dies ist 140 mal zuviel, 140-facher Rechtsbruch.

Behinderte Kinder, die nicht gleich in der Förderschule angemeldet werden, werden in die Grundschule aufgenommen und müssen dort zunächst über einen langen Zeitraum ohne angemessene Vorkehrungen unterrichtet werden - in zu großen Klassen, von einer Klassenlehrerin, die mit ihrer Aufgabe allein gelassen wird.

Ein Förderausschuss, über dessen Empfehlung ein Förderschullehrer mit höchstens 4 zusätzlichen Stunden in die Klasse kommen könnte, wird in den meisten Fällen frühestens am Ende des 1. Schuljahres einberufen. Dies ist dann auch der Zeitpunkt, an dem sich entscheidet, ob das Kind an der Schule gehalten werden kann oder ob es dem Ressourcenvorbehalt zum Opfer fällt. Bis dahin haben viele Eltern schon „freiwillig“ ihr Kind aus der Regelschule genommen.

Dass heute, wie die Ministerin behauptet, weniger Kinder als früher gegen den Elternwillen in Förderschulen eingewiesen werden, verwundert nicht. Bevor ein Förderausschuss einberufen werden kann und sich herausstellt, dass ein Kind wegen des Ressourcenvorbehalts die Schule verlassen muss, sind bereits etliche Kinder „freiwillig“ in Richtung Förderschule gegangen, weil ihre Eltern die ministeriell organisierte Beschämung ihrer Kinder unter unerträglichen Bedingungen in der Regelschule nicht länger mit ansehen konnten. Diese Kinder tauchen in den Zahlen des Ministeriums nicht auf.

Ministerin Beer denunziert den ungleich besseren alten Gemeinsamen Unterricht (GU) in Interviews gerne als „Schäferhundpädagogik“, indem sie die Förderschullehrkraft im GU mit einem Wachhund vergleicht, der um das behinderte Kind herumschleicht. Das ist eine völlige Verkehrung der Tatsachen. Im GU gab es Teams aus Regel- und Förderschullehrkräften, die gemeinsam einen Unterricht für die ganze Klasse organisierten. Die „Schäferhundpädagogik“ bringt erst die Ministerin mit ihrem neuen System in die Schule, indem Sie Förderschullehrer zwingt als „Hubschrauberlehrer“ von den Beratungs- und Förderzentren kommend stundenweise in die Regelschulen ein- und auszufliegen, was einen gemeinsam geplanten und durchgeführten Unterricht für die Klasse verhindert.

„Heute hier, morgen dort, bin kaum da, muss ich fort“ ist zum Lied der Förderschullehrer geworden.

Das Ministerium rühmt sich, Etikettierungen abgeschafft zu haben. Das hat es nun wirklich nicht. So viel gestempelt wie heute, 4 Jahre nach Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention, wurde in Hessen noch nie.

Im Namen der Inklusion treibt das Ministerium einen Spalt zwischen Regel- und Förderschullehrkräften. Schon jetzt sind wachsende Ressentiments zwischen ihnen feststellbar. Aus ihrer jeweiligen Überforderungssituation beklagen beide einen unhaltbaren Zustand: Die Einen sind im Unterricht auf sich allein gestellt, erhalten nur Beratung, wie sie ein Kind besser fördern können, nicht aber das, was sie und ihre Kinder benötigen. Frustriert verzichten sie in vielen Fällen auf weitere Beratungsanfragen, eine fatale aber gewollte Konsequenz, die zudem nach außen den falschen Eindruck transportiert, ein Bedarf sei nicht gegeben. Die anderen, häufig noch Klassenlehrer an ihrer Förderschule, fühlen sich zwischen einer Vielzahl unterschiedlicher Aufgaben zerrieben und zerrissen, beklagen mangelnde Offenheit und Kooperationsbereitschaft und haben das Gefühl, wie es in einer Resolution heißt, in der „Bedeutungslosigkeit zu versinken“. Die Trennung zwischen denen, die unterrichten, und denen, die nur noch im Bedarfsfall hinzugezogen werden, um zu beraten, ist fatal, hat aber System.