Corona-Hilfspaket für den schulischen Wiedereinstieg nach der Auszeit

von Birgid Oertel,

Min’Rätin a. D.; Hess. Kultusministerium

Während die Politik zur Linderung der Corona bedingten wirtschaftlichen Einbußen die Wirtschaftspakete sowohl für die Firmen als auch für die Väter und Mütter schnürt, sitzen unsere Schulkinder zumeist noch immer ohne ihre Lehrerinnen und Lehrer zu Hause. Sie haben am 16. März ihre Schulaufgaben in unterschiedlicher Güte erhalten, die sie jetzt zu Hause bewältigen sollen. Auch wenn der Schulbetrieb inzwischen langsam wieder anläuft, spielt das Lernen zu Hause noch auf absehbare Zeit eine große Rolle. Die einen sollen Gelerntes wiederholen und einüben, die anderen sollen im Stoff vorangehen, wieder andere haben Wochenpläne erhalten oder lernen mit ihren Eltern online. Über sie und über ihren Wiedereinstieg oder ein mögliches Unterstützungsprogramm redet zurzeit niemand, obwohl auch sie nicht unbeschadet ihren Schulalltag fortsetzen können. Auch sie werden - wie die Wirtschaft - nicht ohne ein Hilfspaket zum schulischen Wiedereinstieg auskommen.

Eine solche Situation - zurück geworfen auf die Familien - hat niemand von uns je erlebt:

Schulen und Kindergärten werden zu unserem Schutz wegen einer ansteckenden Krankheit geschlossen. Umarmungen bzw. nahe Begegnungen sind untersagt. Es wird gesagt, dass die Krankheit jüngere Menschen meist verschont. Bei Älteren mit so genannten Vorerkrankungen soll der Corona-Virus aber schwerwiegende Symptome auslösen, weshalb Großeltern in dieser belastenden Situation für jegliche Unterstützung ausfallen. Alle sollen möglichst zu Hause bleiben! Frühere Unterstützer von Schule wie Nachhilfe, ehrenamtliche Helfer und Helferinnen und wie gesagt auch die Großeltern stehen somit nicht mehr zur Verfügung.

Eltern sind mit ihren Kindern zu Hause allein gelassen. Oft müssen sie ihrer Arbeit in den Krankenhäusern oder Supermärkten weiter nachgehen und können nicht, wie viele, ihre Arbeit im Homeoffice erledigen. Arbeiten sie zu Hause online, müssen sie sich auch noch um den Unterricht, die Betreuung der Kinder bzw. deren Beschäftigung kümmern. Anders als in anderen europäischen Ländern wie Frankreich, die Niederlande usw. haben zahlreiche Kinder in Deutschland noch keinen PC. Ein E-Learning-System ist auch nach der letzten Schweinegrippe nicht auf die Beine gestellt worden. Es gibt aber Eltern, die sich aufgrund der aktuellen Lage in die ersten online-Angebote für Kinder eingekauft haben. Sie begleiten ihre Kinder bei der Bewältigung der online-Programme. Andere Eltern haben die drohende Arbeitslosigkeit der Nachhilfeinstitutionen genutzt und sich dort ihre „Haus“ bzw. Privatlehrer besorgt. Die Krise hat erfinderisch gemacht. Es ist bereits jetzt abzusehen, dass Eltern nicht länger bereit sind, auf staatliche alternative Lernangebote in Notzeiten zu warten. Sie handeln für ihre Kinder und deren Bildungsbedarf, weil sie sehr genau wissen, dass es nach der Krise für ihre Kinder nicht leichter werden wird.

Die Kinder sind gezwungen, die derzeitigen Sorgen der Erwachsenen zu teilen, die nicht wissen, wie lange diese Krise ihren Alltag noch so einschneidend bestimmen wird, wie lange sie noch dauert und was danach sein wird, z. B. eine 2. Welle. Werden sie ihrer Arbeit noch nachgehen können? Werden sie die Kredite für ihr Häuschen oder ihre Wohnung weiter abtragen können? Oder sie müssen hinnehmen, dass ihre Eltern ihre Arbeit bereits verloren haben und arbeitslos sind, weil das Geschäft gerade erst eröffnet worden ist und eine Weiterführung nach der Krise unmöglich ist. Wie wird sich der Arbeitsmarkt nach der Krise gestalten? Werden ausreichend Arbeitsplätze vorhanden sein?

Es gibt erste Meldungen zu Gewalt und die Kinder können sich dieser nicht entziehen. Wir können jetzt noch nicht absehen, wie bzw. mit welchen Belastungen die Kinder aus dieser Krise kommen und bei einem Schulanfang wieder starten, welche psychischen Schäden Corona bei ihnen hinterlassen wird.

Reisenden Unternehmen bzw. Schausteller, Messebauer waren die ersten, die die Krise massiv betroffen hat. Nichts findet vorerst statt. Sie alle sind bis auf weiteres arbeitslos. Nirgendwo findet nur eine Kirmes statt. Und wenn es wieder losgehen sollte, werden viele Familien kein Geld mehr haben, dorthin zu gehen. Die Kinder der beruflich Reisenden ist nur eine Gruppe im Bildungsbereich, die durch den häufigen Schulwechsel im Vergleich zu anderen benachteiligt war. Eine andere Gruppe von Kindern sind die von Eltern, die ihre Kinder aus unterschiedlichen Gründen bereits vor der Krise nicht unterstützen konnten. Jetzt, mit der Krise werden sie zum zweiten Mal abgehängt.

Kaum jemand redet über das schulische Schicksal der Kinder in ihren Familien. Aber:

Das Abitur wird durchgezogen. Nach dem krisenorientierten Alleingang Schleswig-Holsteins haben die Kultusminister am 20. März sehr schnell verabredet, dass das Abitur durchgezogen wird. Am 26. März brachen die ersten Schüler in Hessen ab, am 27. März hat die Bildungsverwaltung in Nordrhein-Westfalen die Prüfungen auf Mai verschoben. Warum kümmert sich die Bildungspolitik bzw. -verwaltung nicht um alle Schülerinnen und Schüler, die jetzt zu Hause gestrandet sind? Interessiert es sie nicht, wie es „ihren Schulkindern“ ohne Schule mit Hausaufgaben und um Arbeitsplätze bangende Eltern geht? Was ist mit den zu bearbeitenden Aufgaben? Erhalten sie alle von ihren Lehrern und Lehrerinnen die Unterstützung, die sie jetzt für ihr schulisches Weiterkommen und zu ihrer Ermutigung brauchen? Unsere Schülerinnen und Schüler sind – anders als z. B. in Frankreich: www.education.gouv.fr – von der Bildungspolitik allein gelassen. In unserem Nachbarland wendet sich der Bildungsminister jeden Freitag an alle seine Schülerinnen und Schüler und beantwortet ihre Fragen. Auch die alleinstehende Mutter mit ihrem behinderten Kind erhält auf ihre Fragen eine Antwort. Einige Bundesländer wie das Saarland haben Eltern für die Situation ihrer Kinder mit formellen Informationen zu der Ausnahmesituation ausgestattet, sogar in nichtdeutschen Sprachen. Wäre hier nicht auch ein einheitliches Vorgehen wie beim Abitur angebracht?

Vielleicht oder glücklicherweise fehlt uns die Erfahrung im Umgang mit Krisen. Aber müssen wir uns nicht gerade deshalb jetzt um die Schwächsten, unsere Kinder, kümmern? Die Abiturienten werden die Reifeprüfung auch ohne die Hilfe der KMK erreichen. Die Universitäten sind ja derzeit auch geschlossen. Vielleicht hätten sie ihr bisheriges Schulleben auch durch solidarische Corona-Hilfeleistungen in Altersheimen, auf Feldern bei der Ernte oder auch mit Unterstützung unserer Kleinsten bereichern können?! Zahlreiche Jugendliche hatten sich ja bereits freiwillig und empathisch für die Krise für Einkäufe, als Erntehelfer oder als Essensverteiler aufgestellt. Es bleibt abzuwarten, ob sie für ihre spontane Bereitschaft nach der Krise die gesellschaftliche Anerkennung, z.B. ein staatliches Corona-Zertifikat, erhalten. Niemand weiß so recht, wie es unseren Kindern in der Krise geht bzw. welche Auffälligkeiten bei ihnen auftreten werden. Aber wir alle wissen bereits aus den bisherigen PISA-Studien, dass Kinder in Deutschland auch schon bisher aufgrund ihrer Herkunft benachteiligt werden. Es ist zu befürchten, dass diese Benachteiligung wächst bzw. die Schere noch weiter auseinandergeht.

Die Diskussion um das Zurück zur Normalität hat in Bezug auf die Wirtschaft bereits lange begonnen. Der Schulbetrieb mit eingeschränktem Präsenzunterricht wurde in Hessen inzwischen wieder aufgenommen, ab Juni sollen auch die ersten bis dritten Klassen zumindest tageweise wieder an die Schulen zurückkehren.

Und dann? Wird es ein Wiedereingliederungsprogramm für unsere Kinder geben? Die Sorge um die derzeit allein gelassenen Kinder treibt mittlerweile viele Eltern um, denn

  • die Arbeitspakete der Lehrerinnen und Lehrer für unsere Kinder sind doch sehr unterschiedlich ausgefallen. Corona stand drängend vor der Türe. Lehrer und Lehrerinnen blieb keine Zeit für Konzepte im Homeoffice.
  • die Eltern sollten die Aufgabe von Lehrenden übernehmen, die sie gar nicht wahrnehmen konnten. Die eigene Ausbildung und die persönliche Befähigung der Eltern reichten oft nicht zur Stoffvermittlung.
  • die Eltern, die im Homeoffice zu Hause bleiben konnten, mussten ihren beruflichen Aufgaben nachkommen.
  • zahlreiche, nicht deutschsprachige Eltern konnten ihre Kinder wegen sprachlicher Unzulänglichkeiten nicht ausreichend unterstützen.
  • den Familien neben den Schulkindern auch die Kindergartenkinder zur Betreuung überlassen waren und der dadurch entstandene Lärmpegel Unterricht und Lernen in begrenztem Wohnraum unmöglich machten.
  • die Eltern hatten zu ihrer eigenen Arbeit noch behinderte oder alte Familienangehörige zu versorgen.
  • die Familien konnten nicht für Bewegungsausgleich sorgen.

Eltern haben in den meisten Ländern keine oder unterschiedliche Informationsschreiben zur Anleitung der Bewältigung der „Haus“Aufgaben erhalten - weder auf Deutsch noch in anderen Sprachen.

Wie bereiten sich die Schulen auf das Wiederkommen ihrer Schülerinnen und Schüler vor? Werden die Schulprogramme für derartige Krisenzeiten im Sinne eines Pandemieplans fortgeschrieben? Zu hoffen ist, dass Willkommenspakete bereits jetzt geschnürt werden. Werden diese Angebote ausgleichende individuelle Förder- und Bewegungsprogramme für das Ausgangsverbot der Kinder beinhalten? Es ist zu hoffen, dass die Länder vergleichbare Maßnahmen in Bezug auf die Ausfallzeiten treffen, Noten längerfristig und Klassenwiederholungen aussetzen. Übergangsempfehlungen zu den weiterführenden Schulen müssen die Zeit der Isolation berücksichtigen.

Zu hoffen ist auch, dass jedes Kind einen individuellen Förderplan erhalten wird und entsprechende Lernprogramme für sie angeschafft bzw. vorgehalten werden. Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs können entfallen, um weiteres Personal für eine zielgerichtete Förderung freizuschaufeln. Zusätzliche Zeit und Personal zum Nachholen müssen allen Kindern mit Unterstützungsbedarf eingeräumt werden. Nachhilfeinstitutionen könnten frei werdende Ressourcen an die Schulen abgeben.

Zu hoffen ist, dass die Wiedereinstiegsphase der Kinder nach den einschränkenden Maßnahmen des „Homeschoolings“ inklusiv gestaltet wird, das heißt, dass jedes Kind die Unterstützung bekommt, die es krisenbedingt braucht.

Zu hoffen ist auch, dass die seelischen Auswirkungen der Krisensituation in den Familien, z. B. durch Arbeitslosigkeit der Eltern, bei der Wiederaufnahme von Schule Berücksichtigung findet.

Bereits bei der Schweinegrippe vor mehr als 10 Jahren konnten die Schulen in Frankreich ihre Schülerinnen und Schüler online erreichen. In den Niederlanden hat jedes Kind einen Laptop und auch die Kinder in Estland und Italien haben dazu entsprechende digitale Lernsysteme entwickelt. Hier bei uns in Deutschland sind es die Eltern, die jetzt in der Krise ihre Kinder wie im vorletzten Jahrhundert vor Gründung der Volksschule selbst unterrichten müssen. Damals hatte das Bildungsbürgertum wenigstens noch seine Hauslehrer.

Holt unser Land jetzt endlich das auf, was seit mehr als 10 Jahren auf der Tagesordnung steht: Das Onlinelernen? „Homeschooling“ war und ist in Deutschland verpönt, aber dieses deshalb so verächtlich zu behandeln, wie bei uns, war ein großer Fehler, der uns jetzt eingeholt hat.

Die Virologen sagen eine kurze Verschnaufpause voraus – zum Winter soll uns die 2. Phase (Welle) erreichen. Es besteht die Hoffnung, dass in dieser Verschnaufpause jedes Kind eine Ausstattung zum e-Learning erhält und dann nicht Eltern wieder Lernpakete für ihre Kinder vor die Türe gestellt bekommen. Eltern aus reisenden Unternehmen und andere warten schon lange auf die Möglichkeiten des online-Lernens, wie in anderen europäischen Ländern längst üblich. Die Krise könnte helfen – wie in Hamburg bereits begonnen – ein Konzept zum online-Lernen für alle Kinder zu entwickeln. Ein Überwinden der föderalen Ländergrenzen zum Austausch des bereits vorhandenen Knowhows könnte den Entwicklungsprozess beschleunigen. Informationen zum „Homeschooling“ grenzübergreifend in Europa könnte für alle Kinder, auch in Krisenzeiten, das in den UN-Kinderrechten verankerte Bildungsrecht sichern helfen. Alle europäischen Länder haben die UN-Kinderrechte gezeichnet und damit einen Bildungskonsens in Europa geschaffen. Alle sind derzeit vom Virus betroffen und könnten jetzt das digitale gesamteuropäische Lernpaket mit einem Curriculum in den Sprachen der 26 Mitgliedssprachen für unsere Kinder schnüren. Das wäre ein Weg in vergleichbaren Krisen, die die Virologen bereits voraussagen, die Bildung unserer Kinder zu sichern und die Klingen der Benachteiligungs-Schere wieder zusammenzuführen.

Fazit: Die Corona-Krise und die damit verbundene Kindergarten- und Schulschließung benachteiligt Kinder und Jugendliche in Deutschland weiter. Fehlende Konzepte in gesundheitlichen Krisenzeiten wie die einer Pandemie haben dazu geführt, dass den Kindern Unterschiedliches von den Schulen zum „Homeschooling“ beschert worden ist und Eltern als Unterstützung absolut überfordert waren.

Für den Wiedereinstieg bzw. bei Öffnung der Schulen muss es für alle Kinder ein umfangreiches, lang angelegtes Corona-Förderpaket geben, das den Kindern ausreichend Zeit und Personal zum Aufholen des verpassten Stoffs gibt. Bei der Benotung, der Feststellungsverfahren, der Versetzung sowie den Übergängen der Kinder muss ihre Situation in den Corona-Maßnahmen berücksichtigt werden.

Ein schulischer Pandemieplan zur Umsetzung eines Konzepts zum chancengleichen Lernen muss das Onlinelernen wie in anderen Ländern einschließen. Ein sofortiges länderübergreifendes Vorgehen mit einem europäischen Curriculum steht auf dem Programm.

Eltern werden es nicht hinnehmen, wenn der digitale Fortschritt weiterhin vor den Schultüren Halt macht.