Inklusion und Exklusion im „Corona-Schuljahr“ 2019/2020

von Roman George

Das Schuljahr 2019/2020 wird wohl absehbar vor allen Dingen als das Schuljahr in Erinnerung bleiben, in dem die Schulen über viele Wochen aufgrund der Corona-Pandemie geschlossen wurden. Und auch das folgende Schuljahr steht ganz im Zeichen der Pandemie, so sind im Unterricht strenge Hygieneregelungen zu beachten. Immer wieder müssen aufgrund von aufgetretenen Corona-Infektionen einzelne Klassen, Jahrgänge oder auch ganze Schulen zum erneuten Lernen auf Distanz zurückkehren.

Auch wenn ein Ende dieser Ausnahmesituation noch nicht absehbar ist, legen doch erste Versuche diese Erfahrungen auszuwerten, einen Schluss nah: Schulen, in denen es etablierte multiprofessionelle Teamstrukturen gibt, in denen Partizipation groß geschrieben wird und in denen individuelles und binnendifferenziertes Lernen fest verankert ist, gelingt es deutlich besser als anderen, sich den aus der Corona-Pandemie resultierenden Herausforderungen zu stellen. Dies zeigt sich beispielsweise in der erfolgreichen Ausgestaltung des Lernens auf Distanz oder im Umgang mit stark differierenden Leistungsständen der Lernenden als Folge der Schulschließung. Schulen, die sich der Inklusion im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention verschreiben haben, können so auch als deutlich besser gewappnet gelten, sich auf einen erfolgreichen Schulbetrieb unter Pandemiebedingungen einzustellen.(1)

Denn Teamarbeit, Partizipation und die Ermöglichung individueller Lernwege und -geschwindigkeiten sind einige der wichtigsten Merkmale von inklusiven Schulen.

Auch vor diesem Hintergrund soll hier die Entwicklung der Inklusion in Hessen, wie sie sich in bildungsstatistischen Befunden niederschlägt, untersucht werden. Damit wird an die, anlässlich von zehn Jahren UN-Behindertenrechtskonvention an hessischen Schulen gezogene, kritische Bilanz der Gruppe InklusionsBeobachtung angeknüpft.(2)

Die an dieser Stelle – neben vielen weiteren Beiträgen – präsentierte bildungsstatistische Analyse, die bis zum Schuljahr 2018/2019 reicht, soll hier unter Rückgriff auf aktuelle Daten zum Schuljahr 2019/2020 fortgeschrieben werden. Für weitere Ausführungen zur Auswahl der verwendeten Daten, zu deren Aussagekraft wie auch zu deren Grenzen sei auf die ausführlichere Darstellung in dieser Publikation verwiesen.

Tabelle 1: Schülerinnen und Schüler in der Inklusion und an Förderschulen

Schuljahr

Schüler/innen an allgemein-bildenden Schulen

Schüler/innen an Förder-schulen

Schüler/innen Inklusion

Förder-quote

Inklusions-quote

Exklusions-quote

Inklusions-anteil

2010/11

659.981

24.788

4.363

4,4 %

0,7 %

3,8 %

15,0 %

2011/12

653.819

24.469

5.214

4,5 %

0,8 %

3,7 %

17,6 %

2012/13

645.952

24.291

6.379

4,7 %

1,0 %

3,8 %

20,8 %

2013/14

631.588

24.029

6.671

4,9 %

1,1 %

3,8 %

21,7 %

2014/15

623.866

23.517

7.200

4,9 %

1,2 %

3,8 %

23,4 %

2015/16

623.582

22.619

7.903

4,9 %

1,3 %

3,6 %

25,9 %

2016/17

628.091

21.771

8.285

4,8 %

1,3 %

3,5 %

27,6 %

2017/18

628.210

21.152

9.118

4,8 %

1,5 %

3,4 %

30,1 %

2018/19

628.810

21.030

10.736

5,1 %

1,7 %

3,3 %

33,8 %

2019/20

632.040

20.984

11.622

5,2 %

1,8 %

3,3 %

35,6 %

Quelle: Hessisches Statistisches Landesamt, eigene Berechnung

Den Daten des Statistischen Landesamts zufolge, haben zum Statistikstichtag 1. November 2019 insgesamt 11.622 Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderstatus eine allgemeine Schule besucht, wurden somit nach schulrechtlicher Definition inklusiv unterrichtet.(3)

Damit hat sich der Anstieg der vergangenen Jahre fortgesetzt, im Vergleich zum Vorjahr sind es nochmal knapp 900 Schülerinnen und Schüler mehr. (Vgl. Tabelle 1) Doch diese positive Nachricht muss leider deutlich relativiert werden, wenn die Entwicklung an den Förderschulen in die Analyse einbezogen wird. An diesen ist die Zahl der Schülerinnen und Schüler nämlich deutlich langsamer gesunken, als es die Zunahme bei der Inklusion erwarten ließe. Das ist damit zu erklären, dass immer häufiger ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt wird. Die Förderquote, also der Anteil an der gesamten Schülerzahl, hat sich entsprechend erhöht.

Während zumindest in den Jahren von 2013 bis 2018 ein deutlicher Rückgang bei den Förderschulen stattgefunden hat, scheint diese Entwicklung inzwischen zum Stillstand gekommen. Zum laufenden Schuljahr ist die Zahl der Schülerinnen und Schüler an Förderschulen hessenweit um gerade einmal 46 zurückgegangen. Zehn Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die eine Förderschule besuchen, um lediglich einen halben Prozentpunkt reduziert – von 3,8 auf 3,3 Prozent. Doch der Ausweitung der Förderdiagnostik zum Trotz, besucht nach wie vor die deutliche Mehrheit der Schülerinnen und Schüler mit festgestelltem sonderpädagogischen Förderbedarf eine Förderschule. Dies bringt der auf nicht mehr als 36 Prozent gestiegene Inklusionsanteil zum Ausdruck.

Tabelle 2: Schülerinnen an Förderschulen und in der Inklusion nach Förderschwerpunkten

 

Förderschulen 2010/11

Förderschulen 2019/20

Inklusion 2010/11

Inklusion 2019/20

Inklusions-anteil 2010/11

Inklusions-anteil 2019/20

Lernen

11.072

6.917

1.561

7.251

12,4 %

51,2 %

emotionale und soziale Entwicklung

1.517

2.321

1.323

1.738

46,6 %

42,8 %

geistige Entwicklung

5.008

5.445

141

1.141

2,7 %

17,3 %

körperliche und motorische Entwicklung

1.375

1.149

397

534

22,4 %

31,7 %

Sprachheilförderung

2.475

2.213

640

728

20,5 %

24,8 %

Hören

794

651

202

149

20,3 %

18,6 %

Blinde/Sehen

308

312

59

59

16,1 %

15,9 %

Kranke

2.239

1.976

49

22

2,1 %

1,1 %

insgesamt

24.788

20.984

4.372

11.622

15,0 %

35,6 %

Quelle: Hessisches Statistisches Landesamt, eigene Berechnung

Der Großteil der Zunahme der inklusiven Beschulung entfällt auf den Förderschwerpunkt Lernen, bei dem auch die Schülerzahl an den Förderschulen deutlich zurückgegangen ist. (Vgl. Tabelle 2) Bei den Förderschwerpunkten emotionale und soziale Entwicklung sowie geistige Entwicklung hingegen besuchen inzwischen sogar in absoluten Zahlen mehr Schülerinnen und Schüler eine Förderschule als noch vor zehn Jahren. Im Bereich der Sinnesbeeinträchtigungen, also den Förderschwerpunkten Hören sowie Blinde/Sehen, geht nach wie vor nicht einmal ein Fünftel an eine allgemeine Schule. Der Inklusionsanteil ist bei diesen Förderschwerpunkten sogar geringfügig zurückgegangen – anstelle im Zeichen der Inklusion anzusteigen.

Tabelle 3: Schüler/innen in der Inklusion nach Schulformen

Förderschwerpunkt

Schüler/innen Inklusion insgesamt

Grund-schulen

Förder-stufen

Haupt-schulen

Real-schulen

Mittel-stufen

Gym-nasien

integrierte Jahrgangs-stufen

Lernen

7.252

2.125

660

1.813

113

313

31

2.197

emotionale und soziale Entwicklung

1.752

528

120

274

212

54

116

448

geistige Entwicklung

1.141

715

47

107

15

28

3

226

körperliche und motorische Entwicklung

552

282

18

22

58

3

80

89

Sprachheilförderung

729

293

70

72

57

19

11

207

Hören

161

49

5

4

26

3

38

36

Blinde/Sehen

60

21

5

2

7

1

12

12

Kranke

33

7

-

1

8

-

13

4

insgesamt

11.680

4.020

925

2.295

496

421

304

3.219

Anteil

100,0 %

34,4 %

7,9 %

19,6 %

4,2 %

3,6 %

2,6 %

27,6 %

Grundschulen einschließlich Vorklassen und Eingangsstufen, Quelle: Hessisches Statistisches Landesamt, eigene Berechnung

Im gegliederten hessischen Schulsystem ist der Anteil der verschiedenen Schulformen an der Umsetzung der Inklusion höchst ungleich verteilt. Mit über 4.000 Schülerinnen und Schülern mit festgestelltem Förderbedarf an Grundschulen und gut 3.000 an integrierten Gesamtschulen sind diese beiden Schulformen mit großem Abstand am weitesten vorangeschritten bei der Entwicklung hin zur Inklusion. (Vgl. Tabelle 3) Bezüglich der Haupt- und Realschulen wie auch der Gymnasien ist zu berücksichtigen, dass hier auch die entsprechenden Zweige der kooperativen Gesamtschulen mitgezählt werden. Doch selbst mit den gymnasialen Zweigen der kooperativen Gesamtschulen zusammen kommen die Gymnasien als größte Schulform unter den weiterführenden Schulen auf nicht mehr als hessenweit 300 inklusiv unterrichtete Schülerinnen und Schüler – weniger als alle anderen Schulformen.

Auch wenn zurzeit der Umgang mit der Pandemie das beherrschende bildungspolitische Thema darstellt, sollte diese keinesfalls zum Anlass genommen werden, die erforderlichen Anstrengungen für die Weiterentwicklung der schulischen Inklusion hintenanzustellen – im Gegenteil.

 


(1) Detlef Fickermann/Benjamin Edelstein (Hrsg.) (2020): „Langsam vermisse ich die Schule ...“ Schule während und nach der Corona-Pandemie, Die Deutsche Schule, 16. Beiheft, https://www.waxmann.com/index.php?eID=download&buchnr=4231

(2) Gruppe InklusionsBeobachtung (Hrsg.) (2019): Zehn Jahre UN-Behindertenrechtskonvention an hessischen Schulen. Eine kritische Bilanz, Frankfurt am Main, https://www.gib-hessen.de/fileadmin/user_upload/veroeffentlichungen/broschueren/200129_brosch_A4_gib_web.pdf

(3) Hessisches Statistisches Landesamt (2020): Die allgemeinbildenden Schulen in Hessen 2019, Teil 1: Grundschulen, Hauptschulen, Mittelstufenschulen, Förderstufen, Förderschulen, sonderpädagogische

Förderung an allgemeinen Schulen, Stand: 1. November 2019, Wiesbaden, https://statistik.hessen.de/sites/statistik.hessen.de/files/BI1a_j19.pdf