Neues Schulgesetz

Neuer Schwung für die Inklusion?

Zum 1. August 2017, und somit rechtzeitig zum Beginn des neuen Schuljahrs, trat das novellierte Hessische Schulgesetz in Kraft. Der im Vorjahr von den hessischen Koalitionsparteien CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vorgelegte Entwurf war in der Anhörung zum Gesetzentwurf im Februar 2017 auf deutliche Kritik gestoßen. Während Schüler- und Elternvertretung wie auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sich in erster Linie enttäuscht zeigten, weil sich der Entwurf eher im juristischen Klein-Klein verlor, als dass er ernsthafte bildungspolitische Ambitionen hin zu mehr Bildungsgerechtigkeit erkennen ließ, konzentrierten sich die Wirtschaftsverbände auf einen ganz anderen Aspekt: Das vorgesehene Werbeverbot und die geplanten Einschränkungen für das Schulsponsoring gingen ihnen viel zu weit. Aber auch die vorgesehenen schulrechtlichen Änderungen bezüglich der Umsetzung der Inklusion wurden im Verlauf der Anhörung ausführlich diskutiert.

Mit einem Änderungsantrag zum eigenen Gesetzentwurf schwächten die Regierungsparteien das Werbeverbot letztendlich deutlich ab und nahmen noch einige redaktionelle Änderungen vor. Das in dieser Form geänderte Gesetz fand dann schließlich im Mai eine Mehrheit im Hessischen Landtag. Neben der schwarz-grünen Koalition votierte auch die FDP, die sich die Wirtschaftsforderung nach einer Aufweichung des Werbeverbotes zu eigen gemacht hatte, für den abgeänderten Gesetzentwurf. Unmittelbar vor dem Inkrafttreten des neuen Schulgesetzes wurde bekannt, dass Hessen im Vergleich der Bundesländer die geringste Inklusionsquote aufweist: Während im bundesweiten Durchschnitt 41,1 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine allgemeine Schule besuchen, sind es beim Schlusslicht Hessen nur 26,8 Prozent. Den höchsten Wert erreicht Bremen mit einer Inklusionsquote von 88,9 Prozent. Eine Förderschule wird dort somit nur von einem guten Zehntel der Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf besucht.

Im neuen Hessischen Schulgesetz wurden nicht zuletzt die „inklusiven Schulbündnisse“ schulrechtlich verankert, die wesentlichen Passagen bezüglich der Umsetzung der schulischen Inklusion wurden in diesem Zusammenhang geändert. Daher stellt sich die Frage, ob die Inklusion an den hessischen Schulen auf dieser Basis neuen Schwung erhalten wird, bestehende Schwierigkeiten gelöst werden. Daran bestehen leider angesichts grundlegender Konstruktionsfehler der inklusiven Schulbündnisse erhebliche Zweifel. Das schließt zwar nicht aus, dass unter diesem Vorzeichen vor Ort einige Fortschritte erzielt werden können, gegen allzu viel Optimismus sprechen allerdings mehrere Gründe, die im Folgenden dargestellt werden.

Ressourcenvorbehalt bleibt bestehen

Nicht zuletzt die Gruppe InklusionsBeobachtung hat seit der Einführung der inklusiven Beschulung im Jahr 2011 kritisiert, dass vom Hessischen Schulgesetz die Einlösung des Menschenrechts auf inklusive Bildung unter einen Ressourcenvorbehalt gestellt wird. So hieß es in Art. 54 Abs. 4, dass die Schulaufsicht die Beschulung an einer Förderschule festlegen kann, wenn „an der zuständigen allgemeinen Schule die notwendige sonderpädagogische Förderung nicht oder nicht ausreichend erfolgen (kann), weil die räumlichen und personellen Möglichkeiten oder die erforderlichen apparativen Hilfsmittel oder die besonderen Lehr- und Lernmittel nicht zur Verfügung gestellt werden können“.

Dieser Absatz wurde nun einerseits etwas gekürzt, indem der Verweis auf die räumlichen und personellen Möglichkeiten sowie die apparativen Hilfsmittel entfällt, andererseits wurde ergänzt, dass die Schulbehörde dann im Rahmen der Festlegung der neuen inklusiven Schulbündnisse entscheidet: „Kann an der zuständigen allgemeinen Schule die notwendige sonderpädagogische Förderung nicht oder nicht ausreichend erfolgen, bestimmt die Schulaufsichtsbehörde auf der Grundlage der Empfehlung des Förderausschusses nach Anhörung der Eltern im Einvernehmen mit dem Schulträger im Rahmen der Festlegung des inklusiven Schulbündnisses nach § 52 Abs. 2 Satz 1, an welcher allgemeinen Schule oder Förderschule die Beschulung erfolgt.“ Im Klartext: Das Recht auf inklusive Bildung, das sich aus der UN-Behindertenrechtskonvention ableiten lässt, kann in Hessen nach wie vor verweigert werden.

Inklusive Schulbündnisse als Mangelverwaltung

Die Koalition und das Kultusministerium betonen dennoch, dass es das Ziel sei, einem Wunsch auf inklusive Beschulung nach Möglichkeit zu entsprechen. Tatsächlich ist die Zahl der ablehnenden Bescheide in den vergangenen Jahren zurückgegangen. Das vom Kultusminister proklamierte Ziel der Wahlfreiheit zwischen dem Besuch einer Sonderschule oder einer allgemeinen Schule kann aber nicht als die Herstellung eines umfassend inklusiven Bildungssystems im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention gewertet werden. Außerdem stellt sich die Frage, inwiefern überhaupt von einer echten Wahlfreiheit gesprochen werden kann, wenn die Inklusion an der allgemeinen Schule unzureichend umgesetzt wird. Auch aus diesem Grund hängt der Erfolg nicht nur von den schulrechtlichen Rahmenbedingungen ab, sondern nicht zuletzt auch von der entsprechenden Ressourcenausstattung.

Zwar ist die Stellenzahl für die Inklusion, die sich in Hessen auf die inklusive Beschulung sowie auf die so genannten vorbeugenden Maßnahmen bezieht, in den letzten Jahren deutlich gestiegen, damit wurde aber im Wesentlichen lediglich die Entwicklung der Schülerzahlen nachvollzogen. Nach Berechnungen der GEW Hessen wäre langfristig mindestens eine Verdopplung der aktuell insgesamt rund 4.400 Lehrerstellen für die sonderpädagogische Förderung erforderlich, um die Inklusion angemessen personell auszustatten. Auch weitere Stellen für sozialpädagogische Fachkräfte und für Schulsozialarbeit werden benötigt. Die inzwischen angekündigten 700 zusätzlichen Stellen für Sozialpädagoginnen und -pädagogen ab 2018 sind ein Schritt in die richtige Richtung, der allerdings noch gut umgesetzt werden muss und auch nicht der letzte bleiben darf. Vor diesem Hintergrund, der zusätzlich durch den akuten Fachkräftemangel verschärft wird, ist zu befürchten, dass es in den inklusiven Schulbündnissen in erster Linie um die Verteilung der insgesamt zu knapp bemessenen Mittel gehen wird – weniger um eine sinnvolle Ausgestaltung der Inklusion.

Etablierung von Schwerpunktschulen

Da der mittel- und langfristig erforderliche Stellenzuwachs für eine flächendeckende Umsetzung der Inklusion auf hohem qualitativen Niveau nicht intendiert ist und da die schwarz-grüne Koalition auch grundsätzlich an dem Doppelsystem aus inklusiver Beschulung und Förderschulen festhalten möchte, ist leider folgendes zu erwarten: Unter dem Vorzeichen der inklusiven Schulbündnisse entsteht ein Nebeneinander von Förderschulen, inklusiv arbeitenden Schwerpunktschulen (vermutlich zumeist Gesamtschulen) und Regelschulen (voraussichtlich insbesondere Gymnasien), die bei der Realisierung des Menschenrechts auf Inklusion weitgehend außen vor bleiben. Wenngleich sich der Begriff der Schwerpunktschule nicht im Schulgesetz findet, so machte Mathias Wagner als bildungspolitischer Sprecher der GRÜNEN im Verlauf der Anhörung dennoch klar, dass die Novellierung genau darauf abzielt.

Nach dem neuen Art. 52 bilden alle allgemeinen Schulen und Förderschulen im Bezirk eines Staatlichen Schulamts ein inklusives Schulbündnis. Es können auch mehrere inklusive Schulbündnisse parallel gebildet werden. Diese sollen laut Abs. 2 „unter der Leitung der Schulaufsichtsbehörde die Standorte für den inklusiven Unterricht für die Schülerinnen und Schüler mit Anspruch auf sonderpädagogische Förderung“ festlegen. Die Koalition hat an dieser Stelle übrigens eine Anregung aus der Anhörung zum Gesetzesentwurf aufgenommen, die von den Vertreterinnen und Vertretern der Ersatzschulen vorgebracht wurde: Privatschulen können nun in den inklusiven Schulbündnissen mitwirken – können wohlgemerkt. Wenn die Ersatzschulen nicht wollen, obliegt die Umsetzung der Inklusion alleine den öffentlichen Schulen. Mit einer Ergänzung des Artikels 143 um einen weiteren Satz, der vorsieht, dass die Schulbezirke nicht „für Standorte für den inklusiven Unterricht“ gelten, werden die so genannten Schulsprengel für die Grundschulen außer Kraft gesetzt. Das bedeutet, dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf gegebenenfalls eine andere Schule besuchen müssen als die Kinder aus der Nachbarschaft. Dadurch entstehen nicht nur längere Schulwege, sie werden so auch aus ihrem sozialen Umfeld herausgelöst.

Beratungs- und Förderzentren stehen weiterhin im Mittelpunkt

Die Inklusion wird weiterhin maßgeblich von den Beratungs- und Förderzentren (BFZ) gesteuert. Diese sind laut Art. 52 Abs. 3 dafür verantwortlich, die allgemeinen Schulen bei vorbeugenden Maßnahmen und bei der inklusiven Beschulung zu beraten. „Sie stellen den allgemeinen Schulen Förderschullehrkräfte für den inklusiven Unterricht im Rahmen des Stellenkontingents zur Verfügung.“ Auf die unzureichende Ausstattung des Stellenkontingents wurde bereits hingewiesen. Nach wie vor, auch innerhalb der inklusiven Schulbündnisse, denen die BFZ angehören, steuern diese maßgeblich die sonderpädagogischen Ressourcen. Sonderpädagoginnen und -pädagogen sind damit auch weiterhin nicht Teil des Kollegiums der allgemeinen Schulen, über ihren Einsatz entscheidet letztendlich das BFZ. Die Aufgabe der Förderschullehrkräfte liegt weiterhin primär bei der Beratung, nicht hingegen bei der Gestaltung des Unterrichts im multiprofessionellen Team.

Auf diese Weise ist nicht nur die Steuerung der Ressourcen weitegehend intransparent, diese kommen auch kaum unmittelbar bei den Schülerinnen und Schülern im Unterricht an. Auch die für erfolgreiche pädagogische Arbeit erforderliche Kontinuität leidet unter der Ansiedlung der Sonderpädagoginnen und -pädagogen an den BFZ. Eine Neuerung ergibt sich allerding insofern, als dass BFZ in Zukunft auch an allgemeinen Schulen angesiedelt werden können, nicht mehr wie bislang ausschließlich an Förderschulen. Ob allgemeine Schulen von dieser Möglichkeit Gebrauch machen werden und ob das Kultusministerium gegebenenfalls seine erforderliche Zustimmung erteilen wird, bleibt allerdings abzuwarten.

Neue Verordnungen stehen noch aus

Die ersten inklusiven Schulbündnisse wurden bereits im Schuljahr 2016/2017 eingerichtet, ohne dass es eine schulrechtliche Grundlage dafür gegeben hat. Nun ist zwar das neue Schulgesetz in Kraft, die im Anschluss eigentlich erforderliche Anpassung von zahlreichen Verordnungen lässt hingegen noch auf sich warten. Das Hessische Kultusministerium hat zwar einige Verordnungsentwürfe vorgelegt, diese wurden aber noch immer nicht im Amtsblatt veröffentlicht. Das gilt etwa für die im Schulalltag wichtige Verordnung zur Gestaltung des Schulverhältnisses (VOGSV). Laut einem noch vor den Sommerferien vorgelegten Entwurf sind bei dieser zum Beispiel mehrere Neuerungen hinsichtlich der Ausgestaltung des Nachteilsausgleichs geplant. Die Neufassung der für die Umsetzung der Inklusion maßgeblichen „Verordnung über Unterricht, Erziehung und sonderpädagogische Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen oder Behinderungen“ (VOSB) scheint hingegen so viel Konfliktstoff zu enthalten, dass das Ministerium bislang nicht einmal einen Entwurf vorgelegt hat. Die alte, zum Jahresende 2017 auslaufende Fassung wird daher voraussichtlich auch im neuen Jahr gültig bleiben. Auf eine beherzte Realisierung des Menschenrechts auf inklusive Bildung seitens der Koalition und des Kultusministeriums weist dieser Vorgang nicht gerade hin.